Zeitzeugenarchiv der Minsker Geschichtswerkstatt

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Nathan Emil

Nathan Emil

Gruppe 
Rassistisch Verfolgte (Jude/Jüdin)
Herkunftsland 
Deutschland
Geburtsort 
Münstereifel
Beruf 
Schuhwarenhändler
Deportationsdatum 
1942 Juni 20
Unterbringung/Inhaftierung 
-
Schicksal 
Am 24. Juli 1942 in Blagowschtschina/Maly Trostinec ermordet
Berichtsart 
Familiengeschichte

Der evangelische Religionslehrer Dieter Corbach veröffentlichte 1994 zum ersten Mal vollständig eine Abschrift der „Wittener Listen“ in seiner Publikation „6:00 Uhr ab Messe Köln-Deutz. Deportationen 1938 – 1945“. Bei den sogenannten „Wittener Listen“ handelt es sich um eine im Stadtarchiv Witten (Sammlung Wülfrath) überlieferte Kartei des „Rheinischen Provinzialinstituts für Sippen- und Volkskörperforschung an der Universität Köln/Rheinische Landeszentrale für sippenkundliche Bestandsaufnahme“, dessen Bestände der damalige Leiter Dr. Karl Wülfrath nach 1945 an sich nahm und im Jahr 1949 der Stadt Witten, seinem damaligen Wohnort, übergab. In diesen Unterlagen befinden sich Karteikarten, die während der NS-Zeit aus den noch vorhandenen Listen der jüdischen Deportierten aus Köln und Umgebung angelegt wurden.

Auf dem Cover von Corbachs Buch und zusätzlich als Abbildung auf Seite 268 ist das Foto eines Koffers zu sehen, der sich im Zug Da 219 von Köln-Deutz nach Minsk befand und dort stehen blieb. Der dunkle Koffer trägt in weißen Buchstaben die Aufschrift: „Familie Emil Nathan KÖLN“. Als Bildquelle wurde das Museum des Großen Vaterländischen Krieges in Minsk genannt. Eine Reproduktion des Fotos wird im NS-Dokumentationszentrum Köln im Nachlass von Dieter und Irene Corbach aufbewahrt. Eine neue Übersetzung des Textes auf der Rückseite dieser Reproduktion ergab, dass der korrekte Bildnachweis Belorusskij gosudarstwennyi archiw kinofotofonodokumentow, Dscherschinsk lauten muss und somit das Original nicht in Minsk, sondern im belarussischen Staatsarchiv für Bild-, Ton- und Filmdokumente in Dserschinsk zu finden ist.
Der Koffer, der leider selbst nicht mehr erhalten ist, gehörte der Familie Emil, Sidonie und Heinz Nathan, die die Nummern 795, 796 und 797 im Transport VI von Köln nach Minsk am 20. Juli 1942 hatten. Als letzter Wohnort in Köln wurde die Neusser Straße angegeben.

Emil Nathan stammte aus Münstereifel, wo er am 12. Juni 1887 als ältester Sohn des Ehepaares Leopold Nathan und Henriette Baum in der Orchheimer Straße 15 geboren wurde.

Die Nathans hatten sich seit Generationen sowohl wirtschaftlich wie gesellschaftlich erfolgreich in dem idyllischen Eifelstädtchen etabliert. Die Familie lässt sich in Münstereifel zurückverfolgen bis zum Jahr 1629. Emils Eltern betrieben ein „Konfektionsgeschäft“, sie verkauften Leintücher, Bettzeuge, Stoffe, Schürzen und Schuhe an die Bauern der umliegenden Eifeldörfer. Emil hatte einen jüngeren Bruder, Hugo, geboren 1897, und eine Schwester Martha, geboren 1895. Die drei Geschwister besuchten die allgemeine Volksschule in Münstereifel. „Was sie von den übrigen Kindern dort unterschied, war, dass sie in den Religionsstunden frei hatten – die sie dann sonntags bei einem Rabbiner nachholten -, dass ihre Festtage andere Namen und Bedeutungen hatten und sie, statt in die Kirche, in den Betsaal“ in der Orchheimer Straße gingen, der als Synagoge diente. Sie waren Teil des gesellschaftlichen Lebens in der Stadt, Hugo war im Mitglied im Männergesangverein und spielte Trompete im Musikverein. Beide Brüder hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft, in dem Emil fast sein Leben gelassen hatte, als er verschüttet wurde und im letzten Moment gerettet werden konnte. Emil und Hugo verdienten ihr Geld zunächst im elterlichen Geschäft und fuhren über Land, um die Waren anzubieten.

Emil Nathan heiratete Sidonie Feith, die am 16. Februar 1892 in Borken geboren wurde. Das Ehepaar lebte in Köln in der Lothringer Straße 28, wo Emil eine Schuhwarengroßhandlung betrieb. Emil Nathan bereiste die Schuhgeschäfte in der Umgebung, um seine Waren anzubieten. Er hatte gute Kontakte und pflegte seine freundschaftlichen Beziehungen von Köln aus in die alte Heimat nach Münstereifel und Zülpich.
Am 19. Januar 1924 kam das einzige Kind, Heinz, in Köln zur Welt. Von 1934 bis 1940 lebte Familie Emil Nathan in der Cardinalstraße 9, wo sie bis 1938 noch versuchte das Geschäft mit Schuhwaren en gros zu betreiben. Ab dem Jahr 1941 wurde als Adresse ein Judenhaus in der Neusser Straße 592 angegeben.

Seit 1933 lebten alle drei Geschwister in Köln. Der Bruder Hugo hatte sein Kino in Euskirchen zwangsverkaufen müssen. Er zog im Juni 1933 mit seiner Frau Emilie und seiner Tochter Hilde (geboren 1923 in Münstereifel) in die Dasselstraße. Die Schwester Martha, die von ihrer Nichte Hilde beschrieben wird als ein „kleines Persönchen mit glattem, blonden Haar und blauen Augen“ lebte als geschiedene Frau mit ihrer Tochter Ruth (geboren 1925 in Köln) in der Jülicher Straße. Sie war nach mehreren Hüftoperationen gehbehindert, so dass sie 1941 in einem jüdischen Haus für chronisch Kranke am Horst-Wessel-Platz wohnte. Die 16-jährige Ruth kam im Februar 1942 in die Obhut ihrer Tante Emilie Nathan in das Barackenlager in Köln-Müngersdorf.

Einige Tage vor der geplanten Deportation von über 1.000 Kölner Juden nach Minsk erhielten die Jugendlichen Hilde und Heinz Nathan den Bescheid, dass sie sich am 19. Juli am Bahnhof Köln-Deutz allein, ohne ihre Eltern, einzufinden haben, um nach Minsk zu „reisen“. Hildes Eltern konnten ihre Tochter bei einer Freundin verstecken, so dass sie dieser Deportation entging. Sie rieten auch Emil an, seinen Sohn, den die Cousine Hilde als „blond, grünäugig und etwas pummelig“ beschrieb, zu Freunden nach Zülpich zu bringen. Doch Emil und seine Frau „Siddy“ waren unentschlossen, sie respektierten den Wunsch ihres Sohnes „mit der Jugend zu gehen“. In der Nacht zum 19. Juli beschlossen Emil und Sidonie Nathan ihren Sohn Heinz zu begleiten und fanden sich am Bahnhof Köln-Deutz ein.

Ebenfalls mit diesem Zug in den Tod nach Blagowschtschina/Maly Trostinec „reiste“ die Cousine Ruth. Sie hatte sich im Barackenlager in einen jungen Mann verliebt und folgte ihm freiwillig in den Transport VI von Köln nach Minsk.

Weiter befanden sich im Zug Da 219 Emils lediger Vetter Oskar (geb. 1898 in Münstereifel), der in Münstereifel ein Konfektionsgeschäft betrieben hatte, sowie dessen Schwester, Emils Cousine Helene Lion (geb. 1896 in Münstereifel), geborene Nathan, mit ihrem Ehemann Karl (geb. 1894 in Euskirchen) und ihrem Sohn Günter (geb. 1925 in Euskirchen).

Aus der gesamten, über neun Generationen in Münstereifel ansässigen Familie Nathan konnten nur Hugo, Emilie und Hilde den Holocaust überleben. Sie wurden am 8. Mai 1945 im Ghetto Theresienstadt befreit.

Quellen und Literatur:

BONGART, Harald: Die Nathans. Eine Münstereifeler Familie. Jahrbuch Kreis Euskirchen 2019, Monschau 2018, S. 55-65.

CORBACH, Dieter: 6:00 Uhr ab Messe Köln-Deutz. Deportationen 1938-1945, Köln 1994.

NATHAN, Hilde: Überlebt zu Dritt. Geschichte im Kreis Euskirchen Jg. 35, Geschichtsverein des Kreises Euskirchen (Hrsg.), Weilerswist 2021, im Druck.

Erstellt von Dr. Gabriele Rünger

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