Das Leben vor dem Krieg
Viktor Čërnyj wurde 1928 auf dem Bauerngut Mogil'noje im Bezirk Borisov geboren. Er hatte vier Schwestern – Nadežda, Sonja, Valentina und Anja – sowie einen älteren Bruder, Pëtr. Die Mutter der Geschwister starb früh. An dieses tragische Ereignis in seinem Leben erinnert sich Viktor folgendermaßen: „Sie hatte zehn oder elf Lungenentzündungen, die Medizin war unterentwickelt“ (Projekt: Dokumentation der Lebensgeschichten „Gerechte unter den Völkern“, Interview am 4. November 2014, durchgeführt durch Irina Kaštaljan). Sein Vater versorgte die große Familie und den Haushalt alleine. Bis 1939 wohnte die Familie auf dem Bauerngut Mogil'noje, als das Gut aufgelöst wurde, siedelte die Familie ins Dorf Vysokij Bereg über. Die Schwestern Nadežda und Sonja heirateten und zogen in andere Dörfer um. Der Bruder Pëtr wurde 1939 zum Militärdienst eingezogen. Vor dem Krieg konnte Viktor vier Klassen Schulbildung absolvieren.
Die Beziehungen seiner Familie zu den jüdischen Nachbaren vor dem Krieg beschreibt er so: „Vor dem Krieg war der Vater mit den Juden aus Borisov befreundet, einmal war auch ich bei ihnen. […] Die gaben immer was zum Abendbrot, machten Tee, und der Vater brachte ihnen eine Gans, also sie waren Freunde“ (Ebd.).
Der Krieg
Viktors Vater wurde wegen Verbindung zu den Partisanen einige Monate nach Kriegsanfang erschossen, Viktor und seine Schwestern blieben alleine. „Während des Krieges erhielten wir als Waisenkinder sieben Hektar Land“, erzählt Viktor, „das ermöglichte uns, einen Gemüsegarten anzulegen“ (Ebd.).
1941 bat Marija Chajmovna Ėpštejn mit ihrer kleinen Tochter Raja die Geschwister um Unterkunft. Sie stellten sich als Flüchtlinge aus Smolensk vor. „Sie hatten auch einen Akzent, keiner wollte sie beherbergen, als man erfuhr, dass sie Juden waren. Da brachte einer der Ortseinwohner sie auf den Gedanken, zu den Waisen zu gehen“ (Ebd.). Viktors ältere Schwester Anna erlaubte ihnen zu bleiben. Marija Chajmovna war damals 40 Jahre alt. Die meiste Zeit verbrachte sie mit der älteren Schwester Anna. Sie sammelten zusammen Kraut auf der Wiese, zerkleinerten es und buken daraus Fladen. Im Frühling suchten sie faule Kartoffeln. Als Marija Chajmovna Anna immer mehr vertraute, erzählte sie über das Ghetto in Borisov, über den Tod ihres Mannes Mann und zweier Söhne, wie sie mit der kleinen Tochter etwa 30 km zurücklegte und das Dorf Vysokij Bereg erreichte.
Viktor erinnert sich, wie sie sich auf das stets unerwartbare Kommen der Deutschen vorbereiteten: „Ich übernachtete nicht im Haus. Ich machte mir ein Nest auf dem Heuboden, und sie (Marija), eine alte Frau, sie tat, als ob sie taub wäre. So bestellten die Leute bei ihr gestrickte Socken und Fausthandschuhe“ (Ebd.). Marija setzte sich das Kopftuch auf, nahm Platz am den Ofen und strickte oder verrichtete eine andere Arbeit, ohne den Kopf zu heben, wenn jemand an die Tür klopfte. Viktor ist sich sicher, dass viele Dorfeinwohner wussten, dass bei ihnen Juden wohnten, sie aber nicht verrieten. Marija war immer sehr vorsichtig. Sie verbrachte bei insgesamt etwa drei Jahre bei den Waisenkindern. Nach dem Rückzug der Deutschen kehrte Marija Chajmovna nach Borisov zurück, wo sie ein Zimmer erhielt. Anna wohnte noch längere Zeit bei ihnen. „Die Juden halfen uns, weil sie in der Stadt waren und wir im Kolchos“ (Ebd.).
Das Nachkriegsleben
Viktor kam nicht in den Genuss einer weiteren Ausbildung. Zwanzig Jahre lang war als Meliorationsfachmann tätig. 1953 heiratete er. Er hat zwei Töchter, einen Sohn und viele Enkelkinder. Marija Chajmovna Ėpštejn emigrierte 1993 zusammen mit ihrer Tochter und zwei Enkelinnen nach Israel.
1997 wurde Viktor Čërnyj der Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ verliehen.
Erstellt von den Mitarbeitern der Geschichtswerkstatt Minsk