Zeitzeugenarchiv der Minsker Geschichtswerkstatt

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Ruschin Erna

Ruschin Erna

Gruppe 
Rassistisch Verfolgte (Jude/Jüdin)
Herkunftsland 
Deutschland
Geburtsort 
Berlin
Beruf 
unbekannt
Deportationsdatum 
1941 November 14
Unterbringung/Inhaftierung 
unbekannt
Schicksal 
Todesumstände unbekannt
Berichtsart 
Familiengeschichte

Erna Ruschin, geb. König

* 15. Juni 1880 in Berlin

Gustav Ruschin

* 25. Mai 1883 in Wongrowitz/Posen

Dahlmannstraße 8, Berlin-Charlottenburg

Das Ehepaar Erna und Gustav Ruschin lebte in Posen, dort wurden ihre Söhne Hans (* 1911) und Alfred (* 1913) geboren. Gustav war von Beruf Fleischermeister und besaß in der Stadt eine Wurstfabrik und Fleischerei. Während des Ersten Weltkrieges kämpfte er in der deutschen Armee. Als Posen im Zuge der Versailler Verträge Polen angegliedert wurde, zog die Familie nach Berlin.

In der Hauptstadt des Deutschen Reiches eröffnete Gustav Ruschin erneut eine Fleischerei und Wurstfabrik, zunächst in der Nähe des Alexanderplatzes, dann in der Bachstraße westlich des Tiergartens. Als einer der wenigen jüdischen Fleischermeister belieferte er auch andere Läden mit koscherem Fleisch. Die Fensterscheiben seines Ladens, auf denen auf Hebräisch »koscher« stand, wurden mehrmals eingeworfen. Ob Gustav sein Geschäft 1934 aufgrund antisemitischer Repressionen schloss, ist nicht überliefert. 

1933 hatte es in Berlin über 6.000 Einzelhandelsgeschäfte gegeben, deren Inhaberinnen und Inhaber von den Nationalsozialisten als jüdisch verfolgt wurden. Bis April 1938 ging diese Zahl auf Grund von Verfolgungsmaßnahmen, Geschäftsaufgaben bei Emigration und erzwungenen »Arisierungsverkäufen« um die Hälfte zurück.

Die Söhne von Erna und Gustav Ruchin, Hans und Alfred, studierten in Berlin Medizin. Alfred Ruschin wollte Gerichtsmediziner werden und nahm deshalb im Mai 1932 zusätzlich ein Jurastudium auf. Die »Deutsche Studentenschaft« der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität zu Berlin) beteiligte sich unmittelbar nach Machtübernahme der Nationalsozialisten aktiv an der Verdrängung jüdischer Dozenten und rief im Mai 1933 zum Boykott ihrer Vorlesungen auf. Am Abend des 10. Mai 1933 verbrannten Studenten etwa 25.000 Bücher, darunter viele jüdische Autorinnen und Autoren, auf dem Opernplatz (heute Bebelplatz) gegenüber dem Universitätsgebäude.

Alfred Ruschin musste die juristische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität im Juli 1933 verlassen. Sein Bruder Hans Ruschin wurde im März 1934 gezwungen, sein Studium aufzugeben, damit verfiel auch sein Ehrenstipendium des Jüdischen Wohlfahrts- und Jugendamtes.

Daraufhin eröffnete Hans Ruschin in der Wohnung seiner Eltern in der Dahlmannstraße 8 eine orthopädische Praxis. In Kursen bildete er außerdem Schülerinnen und Schüler in orthopädischer Fußbehandlung und Pediküre aus. Die Nationalsozialisten erzwangen auch die Aufgabe dieser Erwerbstätigkeit. Ab 1937 durfte Hans keine orthopädischen Behandlungen mehr durchführen, ab 1938 wurden die Ausbildungskurse und im Jahr darauf die Fußpflege verboten.

Nach der »Reichspogromnacht« vom 9. auf den 10. November 1938 wurden Tausende jüdische Männer verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt, unter ihnen Hans Ruschin. Er wurde bis Januar 1939 im Konzentrationslager Sachsenhausen festgehalten. Nach seiner Freilassung wurde er unter dem Vorwand, er habe die »Deutsche Arbeitsfront« (national-sozialistischer Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber) diffamiert, erneut inhaftiert.

An seinen Bruder Alfred Ruschin, der im Mai 1938 nach Australien emigriert war, schrieb er: »Ich habe jüdische Ärzte in Einlagenherstellung ausgebildet. Der praktische Unterricht fand in der arischen Fa. Springer statt. Die Erlaubnis für die Ausbildung im arischen Betrieb erhielt Springer von der Arbeitsfront gegen Zahlung von RM 70.- pro Person [...]. 14 Tage nach dem 10. November stand nun im Stürmer [nationalsozialistische Wochenzeitung] ein wütender Artikel gegen Springer. Nun bekam die Arbeitsfront Angst vor ihrer mutig gegebenen Erlaubnis, und sann auf Möglichkeit sich von diesem Verdacht zu reinigen. [...] Ich wurde nunmehr von dem Sondergericht wegen Diffamierung der Arbeitsfront angeklagt. Die Diffamierung war darin zu erblicken, dass ich verbreitet habe, dass die Arbeitsfront von Juden Geld kassiere. Nach ca. 14 Tagen wurde die Anklage aber fallengelassen, da die Arbeitsfront, die in diesem Fall als Kläger hätte auftreten müssen, den Fall von sich aus vor Gericht weder aufrollen noch ihrer Zeugnispflicht genügen wollte.« (Brief von Hans Ruschin an seinen Bruder Alfred Ruschin, 19. Mai 1939, Privatbesitz, S. 2 f.)

Hans wurde nun wegen Betruges angeklagt und verurteilt. Am Vortrag seiner Entlassung ließ ihn der Richter zu sich kommen: »Er sagte mir ungefähr dies: >Ihre Haft ist ja nun um. Ich habe soeben den roten Zettel (nach Verbüßung der Strafe zurück zur Gestapo) von ihren Akten entfernt.< Er fragte, wann ich wohl auswandere [...].« (Brief von Hans Ruschin an seinen Bruder Alfred Ruschin, 1. Juni 1939, Privatbesitz, S. 4) Nach seiner Freilassung, die der Richter ermöglicht hatte, emigrierte Hans Ruschin umgehend nach England.

Erna und Gustav Ruschin verblieben ohne ihre beiden Söhne in Berlin. Im Januar und September 1940 verfasste das Ehepaar Rot-Kreuz-Briefe an ihren Sohn Alfred in Australien. Am 14. November 1941 wurden Erna und Gustav gezwungen, den Zug zu besteigen, der sie nach Minsk brachte. Die Umstände ihres Todes sind nicht überliefert.

Nach Kriegsende folgte Hans Ruschin seinem Bruder Alfred nach Australien, wo beide ihren Nachnamen in Ruskin änderten. Alfred Ruskin hatte fünf Jahre in der Sanitätstruppe der australischen Armee gedient und engagierte sich in den folgenden Jahrzehnten stark im kulturellen Bereich. Er war unter anderem Gründungsmitglied der Stiftung »Australian Ballet« und Vorsitzender der Stiftung »Victoria State Opera«. Alfred Ruskin verstarb 1996 im Alter 82 Jahren in Melbourne. Seine Tochter Sally Holt und sein Sohn Jeremy Ruskin stellten das hier gezeigte Foto ihres Vaters und ihrer Großeltern sowie persönliche Aufzeichnungen zur Verfügung.

Jahrzehnte nach Kriegsende war Alfred Ruskin in seine frühere Heimat Berlin gereist, über seinen Besuch schrieb er: »Vor sechs oder sieben Jahren machte ich schließlich meinen Frieden mit Deutschland. Wie alle von uns, die von dort kamen, hatte ich einen fürchterlichen Groll empfunden. Als ich das erste Mal nach Berlin kam, sagte ich mir, >Ich werde nirgendwo Deutsch sprechen. Ich werde Englisch sprechen. Ich bin Australier<. Ich landete also in Tempelhof, dem damaligen Berliner Flughafen, ich verließ das Flugzeug und nahm ein Taxi. Der Fahrer sagte im reinsten Berlinerisch: >Wo wollen Sie hin, Chef?< Und ich antwortet ihm in reinstem Berlinerisch, >Ich will ins Kempinski<. Ich lief umher. Unser Haus war zerstört worden. Ich lief umher und hörte die Stimmen aller Menschen, die nicht da waren, aber ich fühlte keinen Hass in meinem Herzen.« (Alfred Ruskin, The Melbourne scene, in: John Foster (Hrsg.), Community of Fate: Memories of German Jews in Melbourne, Sydney 1986, S. 106 f.

Erstellt von Martina Berner