Zeitzeugenarchiv der Minsker Geschichtswerkstatt

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Lachmann Martin

Lachmann Martin

Gruppe 
Rassistisch Verfolgte (Jude/Jüdin)
Herkunftsland 
Deutschland
Geburtsort 
Glogau/Schlesien
Beruf 
Versicherer
Deportationsdatum 
1941 November 14
Unterbringung/Inhaftierung 
keine
Schicksal 
Tod am 16.11.1941 während des Transports
Berichtsart 
Familiengeschichte

Martin Lachmann

* 16. September 1881 in Glogau/Schlesien

bis 16. November 1941 (während des Transports/vor der Ankunft in Minsk)       

Wilmersdorferstraße 96, Berlin-Charlottenburg

Martin Lachmann wurde am 16. September 1881 im schlesischen Glogau geboren und wuchs mit drei Schwestern auf – über seinen familiären Hintergrund ist sonst wenig bekannt. Anfang des 20. Jahrhunderts zog die Familie Lachmann nach Berlin. Dort begann Martin Lachmann 1907 im Alter von 26 Jahren seine Arbeit als Versicherungsvertreter bei der Allianz- und Stuttgarter Lebensversicherungsbank A.G. Er heiratete die Kölnerin Aenne Alsberg (* 23. 2. 1885), die aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie stammte – die Warenhauskette »Gebrüder Alsberg« hatte etwa 50 Filialen im Deutschen Reich. Am 5. April 1911 kam Tochter Ruth Ernestine zur Welt.

Martin Lachmann machte bei der Allianz Karriere und stieg bis zum Subdirektor auf. Sein Enkel Peter Haas beschreibt ihn als »tüchtigen Geschäftsmann, aber sicher nicht immer sehr sympathisch«. (Zitiert nach: Martin Stein (alias Frank Stern), J wie Jude. Erinnerungen an seinen Großvater, in: Frankfurter Rundscha, 28.6.2002.) Stets adrett gekleidet, mit kurzen Haaren und einem akkuraten Oberlippenbart habe er etwas Militärisches an sich gehabt. Im Jahr 1932 hatte die Allianz ihn mit einer Silbermedaille für seine herausragenden Leistungen ausgezeichnet. Ein Jahr später wurde ihm sogar die erste »Goldene Ehren-Medaille« verliehen. Er galt als einer der erfolgreichsten Versicherungsvertreter seiner Zeit bei der Allianz.

Martin Lachmann genoss seinen beruflichen Erfolg und erfreute sich an Begünstigungen wie einem Privatchauffeur, den ihm sein Arbeitgeber zur Verfügung stellte. Mit seiner Ehefrau Aenne lebte er sich aber immer mehr auseinander, sodass sie ihn in den 1930er-Jahren verließ und nach München zog. Trotz der Trennung besuchte Aenne Lachmann Martin und die inzwischen erwachsene Tochter Ruth des Öfteren in Berlin. Ruth hatte im September 1932 Leopold Haas geheiratet, der – ganz im Gegensatz zu ihr – aus einer ländlich-bäuerlichen Familie stammte. Beim Hochzeitsfest waren Gäste aus den unterschiedlichsten Lebenswelten aufeinandergetroffen, wie man auf den Familienfotos deutlich erkennen kann. Am 26. August 1934 war der gemeinsamer Sohn Peter Joachim Haas geboren worden, und Aenne kam, um für den Enkel zu sorgen. Auch Martin Lachmann kümmerte sich rührend um den Nachwuchs und nahm Peter im Dienstwagen mit auf Geschäftsfahrten oder auch mal ins Theater.

Martin Lachmanns Schwiegersohn Leopold Haas hatte sich in der Metallbranche hochgearbeitet und war seit 1934 bei der jüdischen Ferro-Metall und Pyrit AG in Berlin angestellt. Die nationalsozialistischen Rassengesetze zwangen die Firma 1938, ihre Betriebe im Deutschen Reich aufzugeben. Leopold Haas wurde eine Arbeit in einer Zweigstelle der Firma in Stockholm angeboten. Die Übersiedlung nach Schweden war trotz der restriktiven Einwanderungspolitik unproblematisch, sofern man ein Arbeitsverhältnis im Land vorzuweisen hatte. Die Eheleute Haas erkannten ihre Chance und verließen Deutschland. Ruth Lachmann hatte sich zwar neu verliebt, in den Italiener Edmundo Mazza, dennoch entschied sie sich, ihrem Ehegatten nach Schweden zu folgen – nicht zuletzt deshalb, da sie sowohl in ihrer Heimat wie auch in der von Edmundo Mazza antisemitische Übergriffe befürchten musste.

Nach ihrer Ankunft in Stockholm versuchten die Eheleute Haas auch für Ruths Eltern Martin und Aenne Lachmann eine Aufenthaltsgenehmigung zu erwirken, was sich jedoch als schwierig erwies. Außerdem glaubte Martin Lachmann Ende der 1930er-Jahre daran, dass sich das Blatt noch einmal wenden und die Verhältnisse im Deutschen Reich wieder human werden würden. Er hatte großes Vertrauen in seinen Arbeitgeber, wie aus einem Brief hervorgeht, den er im Oktober 1938 an seine Tochter Ruth und ihren Ehemann nach Schweden schrieb: »[…] Ich denke ja, daß die Allianz mich nicht fallenlassen wird; denn das wäre wohl das Allerschlimmste, was man mir antun kann. Nach 31 Jahren angestrengter Arbeit […] dürfte ein Fallenlassen für mich zur Katastrophe werden. Da ich meinen Bestand für mich als Alters-Versorgung […] angesehen habe […], so dürfte eine Untreue in dieser Beziehung mir gegenüber ungefähr dasselbe wie Selbstmord bedeuten. Ich will und kann es aber nicht glauben, da ich die ehrenwörtliche Beteuerung noch vor ganz kurzer Zeit von meinem höchsten Vorgesetzten erhalten habe.« (Gerald D. Feldman, Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933-1945, München 2001, S. 172.)

Er sollte Unrecht behalten: Im Jahr 1939 wurde sein Vertrag bei der Allianz nicht verlängert. Außerdem hieß es vonseiten der A.G., dass ihm als »Nicht-Arier« für die von ihm abgeschlossenen Versicherungen keine Anteile mehr aus den Provisionserträgen zustünden. Martin Lachmann hatte fest mit diesem Einkommen gerechnet und war schockiert: »Mir ist das ja vollkommen schleierhaft, denn diese Geschäfte waren abgeschlossen zu einer Zeit, als solche Gesetze nicht bestanden, und sind auch, wie es in meinem Vertrag ausdrücklich zum Ausdruck gebracht wurde, ein gewisser Bestandteil meiner ehrlich verdienten Provision.« (Ebenda, S. 173) Anfangs versprach ihm sein ehemaliger Arbeitgeber noch eine Anstellung in der Schweiz. Als sich auch diese Hoffnung zerschlug, versuchte Martin Lachmann doch noch, nach Schweden auszuwandern. Im August 1940 schrieb er an seine Tochter nach Stockholm: »Ich muss nun unter allen Umständen versuchen, von hier fortzukommen. Es ist grauenhaft, denn ich liebe mein Vaterland Deutschland so sehr, dass ich fast am Leben verzage, wenn ich daran denke.« (Stein, J wie Jude. Das folgende Zitat ebenda.) Er setzte alle Hebel in Bewegung, um die nötigen Papiere für eine Emigration nach Südamerika zu bekommen. Auch Verwandte in den USA kontaktierte Martin Lachmann in der Hoffnung, diese könnten ihm eine Anstellung in der Landwirtschaft besorgen und somit die Einreise ermöglichen. Eine seiner drei Schwestern, Judith, war in den 1930er-Jahren gemeinsam mit ihrem Ehemann in die Vereinigten Staaten emigriert, und auch die Schwester von Aenne Lachmann lebte dort.

Ob auch Aenne Lachmann versuchte, aus Deutschland auszuwandern, ist unbekannt. Im Januar 1939 war sie bei der Familie Schwarz in München in die Mandlstraße 9 eingezogen. Dort lebte sie, bis sie Anfang 1942 im Alter von 55 Jahren starb; laut ihrer Schwester Olga Gardener ist sie auf offener Straße ermordet worden. Nur wenige Monate zuvor, im November 1941, war Martin ums Leben gekommen. Bis kurz vor seiner Deportation hatte ihn die Hoffnung nicht verlassen. Noch am 22. Oktober 1941 hatte er geschrieben: »Es ist eine furchtbar schwere Zeit, die wir hier durchleben, aber hoffentlich geht alles noch glücklich vorüber.« Am 14. November 1941 wurde Martin Lachmann dann aber mit dem Deportationszug nach Minsk verschleppt. Seinem Todesdatum zufolge, dem 16. November 1941, erreichte er das Ghetto nicht. Ob der 60 Jahre alte Martin Lachmann während des Transports im Zug verstarb oder vor der Ankunft in Minsk erschossen wurde, wird niemand mehr beantworten können.

Erstellt von Roxanna Noll