Zeitzeugenarchiv der Minsker Geschichtswerkstatt

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Alexander Manfred

Alexander Manfred

Gruppe 
Rassistisch Verfolgte (Jude/Jüdin)
Herkunftsland 
Deutschland
Geburtsort 
Charlottenburg
Beruf 
Maurer
Deportationsdatum 
1941 November
Unterbringung/Inhaftierung 
Minsker Ghetto
Schicksal 
Rettung durch Flucht
Berichtsart 
Familiengeschichte

Max Isidor Alexander

* 26. September 1880 in Sadke/Posen

Judith Alexander, geb. Bergmann

* 8. Juli 1892 in Lissa/Posen

Manfred Alexander

* 3. Februar 1920 in Charlottenburg

bis 1. Januar 2006 in New York

Sybelstraße 42, Berlin- Charlottenburg

Von den aus Berlin nach Minsk verschleppten Jüdinnen und Juden haben nur vier überlebt. Manfred Alexander ist einer von ihnen. Es ist ein wahres Wunder, dass er im Januar 1942 aus dem Ghetto Minsk entkam und es ihm gelang, die nahezu zweitausend Kilometer aus der belarussischen Hauptstadt nach Berlin zurückzulegen. Zusammen mit seinen Eltern Max Isidor und Judith Alexander war er am 14. November 1941 nach Weißrussland verschleppt worden. Durch eine Reihe glücklicher Umstände, Mut und die Hilfe von verschiedenen Menschen konnte er sein Leben retten und sich, seine Freundin und deren Mutter in die sichere Schweiz bringen.

Manfred wuchs zusammen mit seinem fünf Jahre älteren Bruder Gert im gutbürgerlichen Mittelstandsmilieu in Berlin-Charlottenburg auf. Seinen Vater Max Alexander, einen talentierten Schneider und Kaufmann für Herrenmoden zog es bereits vor der Jahrhundertwende nach Berlin. Er begann im renommierten Modehaus Gerson zu arbeiten und wohnte zunächst zur Untermiete in der Sedanstraße (heute Leberstraße) in Schöneberg bei Antonie H. und ihren sieben erwachsenen Kindern. Antonie H. bestritt ihren Lebensunterhalt, indem sie Zimmer untervermietete und in Heimarbeit für ein Berliner Konfektionshaus nähte. In der Zeit bei Antonie H. kam es zu einer folgenreichen Begegnung zwischen Max Alexander und der im selben Haushalt lebenden 32-jährigen Tochter Erna. Aus der Liaison ging 1913 der gemeinsame uneheliche Sohn Max hervor. Nur wenig später wandte sich Max Isidor Alexander jedoch Judith Bergmann zu, der Tochter eines Kaufmanns aus Lissa in Posen. Sie kam kurz vor dem ersten Weltkrieg nach Berlin und heiratete Max Alexander. Das frischvermählte Paar bezog alsbald eine geräumige Wohnung im dritten Stock der Sybelstraße 42 in Charlottenburg, wo die beiden bis zu ihrer Deportation im November 1941 lebten. Ein Jahr nach der Hochzeit wurde der erste Sohn Gert Max geboren, fünf Jahre darauf Manfred.

Schon Mitte des 19 Jahrhunderts avancierte Berlin zum Modezentrum Deutschlands. Konfektionäre wie Mannheimer und die Gebrüder Gerson schufen rund um den Hausvogteiplatz mit ihren Warenhäusern ein Klima modischen Schaffens, das bald überall Stadtgespräch war. Max Alexander, seit 1906 Angestellter der Abteilung für Herrenkonfektion, Herrenmaßschneiderei und Uniformfertigung im Hause Hermann Gerson, etablierte sich in der Branche und stieg 1917 zum Leiter der Herrenabteilung auf. „Gerson`s Bazar“ - als erstes Berliner Kaufhaus bekannt – gehörte seinerzeit zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt und bot auf seinen drei offenen Verkaufsetagen mit seidenen Tapeten und dicken Teppichen sowie einem Oberlichtsaal einen vortrefflichen Ort für die vornehme Gesellschaft Berlins.

Mode - bis dahin in fester Hand der Maßschneiderei - wurde nun auch bei Gerson am Werderschen Markt 5 von der Stange angeboten. Bis in die 1920er-Jahre hinein blieb Gerson führend in der Branche. Neben russischen Aristokraten, berühmten Schauspielerinnen und Schauspielern zählte auch der kaiserliche Hof zu einem der besten Kunden des Modehauses. Für den Kaiser fertigte Max Alexander auch die weltbekannten preußischen Uniformen.

Den Nationalsozialisten war jedoch der Einfluss der internationalen Mode und der deutschen »Konfektionsjuden« ein Dorn im Auge: Die »artfremde« Mode vergifte die deutsche Frau, hieß es. Unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde dem schöpferischen Modeleben rund um den Hausvogteiplatz ein Ende gesetzt. Nunmehr warb die Arbeitsgemeinschaft deutsch-arischer Fabrikanten (Adefa) für »garantiert arische« Damenunterwäsche, und ein »Deutsches Modebüro« unter der Ehrenpräsidentschaft Magda Goebbels' wurde eingerichtet. Auch der Begriff »Konfektion« war bei den neuen Machthabern verpönt, 1936 wurde er ganz verboten. Jüdische Angestellte wie Max Alexander bekamen schnell die antisemitischen Maßnahmen in der deutschen Bekleidungswirtschaft zu spüren. Schon kurz nach der Machtübernahme wurde ihm – einem der höchstbezahlten Angestellten des Modehauses Gerson – das Gehalt gekürzt und im darauffolgenden Jahr nach 28 Dienstjahren infolge der nationalsozialistischen Umstellung gekündigt. Zwei Jahre später zwangskollektivierten und »arisierten« die Nationalsozialisten das jüdische Modehaus - fortan hieß es Horn.

Um auch weiterhin seine Familie ernähren zu können, eröffnete Max Alexander nach seiner Entlassung ein Etagengeschäft für Maß-Schneiderei in der Leipziger Straße 113, Ecke Mauerstraße in Berlin-Mitte. Das kleine Geschäft begann, sich dank seiner langjährigen Erfahrung und dem offenkundigen Talent fürs Handwerk gut zu entwickeln. Doch mit dem wachsenden Antisemitismus und der steten Auswanderung deutscher Jüdinnen und Juden war das Gewerbe in seiner Entfaltungsmöglichkeit massiv eingeschränkt. Nach dem Novemberpogrom 1938 war auch Max Alexander gezwungen, den Betrieb ganz einzustellen.

Schon während der Kaiserzeit waren die Alexanders eine angesehene Familie in Berlin. Max Alexander, ein im Ersten Weltkrieg ausgezeichneter Soldat und königlicher Hoflieferant, war nicht nur von Kaiser Wilhelm hoch geschätzt und von diesem regelmäßig mit Opernkarten beschenkt worden, er war auch in den Weimarer Jahren in den gehobenen Kreisen der Stadt bekannt und respektiert. Manfred Alexander erinnert sich, dass sein Vater, wenn die Familie an hohen jüdischen Feiertagen auf dem Ku'damm unterwegs war, ständig den Hut zum Gruß heben musste. Doch die Familie hatte in dieser Zeit nicht nur Ansehen, sondern auch ein gutes Einkommen. Von dem recht stattlichen Gehalt konnte sich die Familie sogar ein Automobil leisten – ein Luxus, der in diesen Jahren eher unüblich war.

In der Nachbarschaft der Alexanders lebten jüdische und nicht jüdische Familien zusammen, die Kinder waren unabhängig von ihrer Herkunft und Religion miteinander befreundet. Die Alexanders - liberale »Drei-Tage-Juden« - gingen nur an den hohen jüdischen Feiertagen wie Yom Kippur und Rosh Hashana in die Synagoge in die Fasanenstraße, wo sie ihre Plätze hatten. Manfred entsann sich, dass er, wenn er seine Freunde zu Weihnachten besuchte, von ihnen beschenkt wurde, kamen diese zu Chanukka zu ihm, wurden sie beschenkt. Es war schwer für Manfred zu sagen, welche seiner Freunde jüdisch waren und welche nicht. »Man hatte nie darüber nachgedacht«, sagt er. Bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, war Berlin in seinen Augen für Jüdinnen und Juden die beste Stadt der Welt, eine »pulsierende, kosmopolitische Metropole: das New York seiner Zeit« in der er eine glückliche Kindheit erlebte. Manfred, der wildere der beiden Brüder, schloss sich schon als Neunjähriger der Autonomen Deutschen Jungenschaft an, die sich am 1. November 1929 gründete und fortan als »dj. 1. 11.« Die Jungen sollten selbstständig und unabhängig sein und sich in der Natur behaupten können. Dort lernte Manfred nützliche Dinge, die ihm bei seiner Flucht später sehr behilflich waren. Gert, der sich für keinerlei Sport begeistern konnte, war eher ein »typischer Intellektueller«, urteilt Manfred nachträglich.

Doch mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten 1933 war die antisemitische Stimmung auch für die beiden Brüder spürbar geworden. Niemand traute sich mehr etwas gegen die Nazis zu sagen, entsinnt sich Manfred Alexander. »Wir wussten, wenn wir den Mund zu weit aufreißen würden – man würde uns nicht mehr wiedersehen.« Bis zu seinem Abitur 1937 besuchte Manfred das nach Geschlechtern, nicht jedoch nach Konfessionen getrennte Goethe Realgymnasium in Berlin-Wilmersdorf. Allerdings war für Max und Judith Alexander bald klar, dass ihre Söhne in Berlin keine hoffnungsvolle Zukunft haben würden, und so bemühten sie sich, Manfred nach seinem Abitur zusammen mit seinem Bruder Gert nach Amerika zu schicken, wo schon einige Verwandte der Alexanders lebten. Die Liebe zu seiner Freundin Ursula hielt Manfred aber in Berlin - Gert trat die Reise über den Atlantik ohne ihn an. Da die Lebensbedingungen für Jüdinnen und Juden in Berlin immer schwieriger wurden, schickten auch Ursulas Eltern ihre Tochter, die gelernte Krankenschwester war, kurze Zeit später nach England. Für Manfred war eine Flucht aus Deutschland nun aber zu spät. Da er als Jude an der Technischen Hochschule in Berlin nicht mehr Bautechnik und Architektur studieren durfte, begann der junge Manfred eine Lehre als Maurer und studierte nebenher heimlich mit einem Oberregierungsbaurat Statik, Ingenieurwesen und Berechnung von Baustoffen. Die Konstruktionsfirma, bei der er bis zu seiner Deportation beschäftigt war, wurde später vom Baustab Speer übernommen. Nach Kriegsbeginn waren sie damit beauftragt, die ausgebombten und zerstörten Gebäude der Stadt wieder aufzubauen.

In dieser schweren Zeit fand Manfred Halt bei seinen engsten Freunden. Sein bester Schulfreund Georg Hertzmann war aus Polen und wie Manfred aus einem jüdischen Elternhaus. Georg war eng mit dem Aristokratensohn Werner von Biel befreundet, und auch die Schwestern der beiden standen sich bald sehr nahe. Manfred beschreibt Jutta von Biel und ihre Freundin als außergewöhnlich hübsche Frauen, nach denen sich jeder auf der Straße umdrehte. Werner von Biel, der als jüngstes von sieben Kindern in Schloss Zierrow an der Ostsee aufwachsen war, war das klassische schwarze Schaf der Aristokratenfamilie. Zu dem Zeitpunkt, als er Manfred Alexander kennenlernte, arbeitete der Mittzwanziger in Berlin als Kaufmann für das Flugzeugwerk Heinkel, das Kampfflugzeuge für die Wehrmacht baute.

Inmitten des sich radikalisierenden Nazideutschlands bildeten die Freunde eine seltene Allianz, die von Toleranz und gegenseitigem Respekt bestimmt war. Sie halfen sich bei den alltäglichen Problemen, spielten Fußball, sprachen über Philosophie, Religion, Ethik und natürlich über Mädchen.

Ende Oktober 1938 jedoch wurde die Gruppe abrupt auseinandergerissen. Mit der sogenannten Polenaktion wurden 17 000 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit gewaltsam aus dem Deutschen Reich nach Polen abgeschoben. Auch Georg Hertzmann und seine Familie waren unter ihnen. Der 18-jährige Manfred meldete sich freiwillig bei der Jüdischen Gemeinde, um zu helfen, die am Bahnhof zusammengetriebenen Menschen mit Lebensmitteln für die Reise zu versorgen.

Auch die Eltern des 17-jährigen polnischen Juden Herschel Grynszpan, der in Paris lebte, waren unter den Betroffenen. Aus Rache für die Leiden seiner Eltern schoss der Junge in der Deutschen Botschaft in Paris auf den Legationssekretär der NSDAP Ernst Eduard von Rath. Die NS-Führung nutzte das Attentat und organisierte am 9. November 1938 im gesamten Reichsgebiet bis dahin beispiellose Ausschreitungen und Übergriffe auf Jüdinnen und Juden. Manfred, der an diesem Abend gerade auf dem Heimweg war, sah, dass bereits alle Geschäfte, die zerstört werden sollten, bereits mit dem Wort »Jude« markiert worden waren. Als er in der Fasanenstraße aus dem Bus stieg, sah er, wie SA-Männer auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Synagoge, wo er fünf Jahre zuvor seine Bar Mizwa gefeiert hatte, in Flammen setzten. Sie rollten Benzinfässer hinein und warfen dann Handgranaten hinterher. Ein Augenzeuge dieser Nacht berichtet über die Gewalttaten in Charlottenburg: »Mit Knüppeln und langen Stangen, johlend und lachend, brachen sie auf dem Kurfürstendamm, in seinen Nebenstraßen und in der Tauentzienstraße in die Geschäfte, Büros und Wohnungen der jüdischen Einwohner ein. Wie aus dem Boden gewachsen tauchten plötzlich Hunderte von jungen Burschen auf, die an ihrer SA-Herkunft nur durch die Schaftstiefel zu erkennen waren, verteilten sich nach einem festgelegten Plan auf beiden Seiten des Kurfürstendammes und zertrümmerten die großen Schaufenster der jüdischen Geschäfte. Andere Trupps zogen nach der Fasanenstraße und beginnen das schändlichste Werk der an Verbrechen reichen Nacht: Sie drangen in das Gotteshaus, in die Synagoge ein und setzten sie in Brand. Hoch loderten die Flammen als, von empörten Passanten alarmiert, die Feuerwehr eintraf. Und dann geschah das Unfassbare, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt: Die Feuerwehr durfte nicht löschen, die Polizei durfte nicht den Mob verjagen! Hilflos standen die Löschmannschaften vor der brennenden Synagoge: Die SA-Männer hinderten sie am Auslegen der Schläuche, und die Polizei drehte dem schamlosen Schauspiel den Rücken.« (Karl Ernst Rimbach, 250 Jahre Charlottenburg, Berlin 1955, S. 41) Auch Freunde von Manfreds Eltern wurden in dieser Nacht verhaftet und in Sachsenhausen interniert. Seinen Eltern geschah nichts.

Einige Monate später über die Weihnachtsfeiertage fuhr Manfred zusammen mit Jutta von Biel in den kleinen Vorort von Warschau, in dem ihr Freund Georg Hertzmann nun leben musste. Es war das letzte Mal, dass sich die Freunde sahen. Das Schicksal von Georg und seiner Familie ist nicht bekannt.

Bis zum Schluss glaubte Max Alexander, dass ihm und seiner Familie nichts passieren würde. Er war ein Freund des Kaisers, durch und durch preußisch, war für seine Dienste im ersten Weltkrieg ausgezeichnet worden und ein angesehener Bürger der Stadt. Dass auch ihm Gefahr drohen könnte, wollte er nicht glauben. Gert Alexander, der nun bereits in New York lebte, versuchte vergebens, Visa für seine Eltern zu erhalten. Zwar waren Max und Judith in Deutschland geboren worden – Posen war damals preußische Provinz gewesen -, doch nach dem Ersten Weltkrieg waren weite Teile der Region an Polen gefallen. Die Einreisequote für polnische Staatsbürger in die USA aber war sehr gering und damit die Chance, seine Eltern aus Deutschland herauszuholen, nahezu unmöglich.

Am 1. November 1941 erhielten Max, Judith und Manfred Alexander ein Schreiben, in dem ihnen die bevorstehende »Evakuierung in den Osten« mitgeteilt wurde. Dem Schreiben anhängig war auch ein Formular, in dem die Familie ihr Vermögen aufführen sollte. Zwei Woche später wurde ihnen im Sammellager mitgeteilt, dass ihres »Volks- und staatsfeindliches Vermögens« nach der gesetzlichen Bestimmung von 1933 eingezogen wird. Die Familie musste Schmuck und Wertsachen abliefern. Wenige Tage vor dem angekündigten Deportationstermin stand die Gestapo in der Sybelstraße 42 vor der Tür und teilte Max Alexander mit, dass sie in den nächsten beiden Tagen kommen und die Familie abholen würden. Trotz dieser Ankündigung tauchte die Familie jedoch nicht unter. Wie angekündigt kamen die Polizisten, um die Familie abzuholen. Die Wohnung wurde beschlagnahmt. Max, Judith und ihr Sohn Manfred wurden in die zum Sammellager umfunktionierte Synagoge in die Levetzowstraße gebracht.

Manfred, der noch keine Gelegenheit hatte, sich von seiner Freundin Helene zu verabschieden, bat den leitenden SS-Mann im Sammellager um Erlaubnis, ein letztes Mal hinauszugehen, um von der Freundin Abschied zu nehmen. Bei seiner preußischen Ehre versprach er wiederzukommen, schlug die Hacken zusammen, und der SS-Mann ließ ihn gehen. Manfred machte sich auf in die Mommsenstraße, die nur eine Straße von der elterlichen Wohnung entfernt war. Seine 18 Jahre ältere Freundin Helene Lohse, geb. Gottberg, und ihrer Mutter Luice Gottberg, geb. Citron, hatten dort Zuflucht bei der Schweizer Familie Stückgold gefunden. Luice Gottbergs Mann war geheimer Sanitätsrat und 1921 an einer Lungenentzündung gestorben. Helenes geschiedener Mann war schon in den ersten Jahren nach Hitlers Machtantritt nach Südafrika ausgewandert. Einer von Manfreds Freunden, der im selben Haus in der Mommsenstraße lebte, hatte Manfred und Helene einander vorgestellt. Als Manfred an diesem Novembertag bei ihr auftauchte, um ihr Lebewohl zu sagen, versuchte sie, ihn zum Bleiben und Untertauchen zu überreden. Doch er erklärte ihr, er könne seine Eltern nicht allein zurücklassen.

Manfred kehrt in das Sammellager zurück und verbrachte zwei schreckliche Tage in dem restlos mit Menschen überfüllten Gebetssaal der Synagoge. Dann wurde er zusammen mit seinen Eltern in Lastwagen zum Güterbahnhof in Berlin-Grunewald gefahren, wo sie einen ausrangierten Dritte-Klasse-Personenzug besteigen mussten, der sie nach Minsk bringen sollte. Manfred erinnert sich: »Wer auch immer auf dem Weg starb, alte Leute, junge Leute, wurde aus dem Zug geworfen.«

Vier Tage dauerte die Fahrt. In Minsk angekommen trieben ukrainische SS-Leute die verängstigten Menschen aus den Wagons. »Mach schnell. Mach schnell. Hier kommt Kugel nicht drauf an.«, brüllten die Ukrainer, »das war der ganze Umfang des Deutschen das sie sprechen konnten«, erinnert sich Manfred Alexander an die Ereignisse dieses Tages. Manfred wurde sogleich mit einigen anderen Neuankömmlingen abkommandiert, um außerhalb des Ghettos zu arbeiten. Minsk war vom Krieg fast vollständig zerstört worden, nur einige wenige Gebäude waren noch einigermaßen intakt. Weil bekannt war, dass der 21-jährige Manfred vor seiner Deportation schon bei einer Konstruktionsfirma in Berlin gearbeitet hatte, wurde er zum Arbeitseinsatz bei der Eisenbahn eingeteilt und musste bei schrecklichen Minusgraden in der vom Krieg zerstörten Stadt die Gleise reparieren. Sein Vorgesetzter Arnold Ortmann war Schwabe und deutscher Arbeiter vom Eisenbahnbaustab in Minsk. Er freundete sich schnell mit Manfred an, gab ihm etwas mehr zu essen und verhalf ihm Anfang 1942 zur Flucht. Arnold Ortmann warnte Manfred Alexander, dass die Ghettobewohnerinnen und -bewohner ermordet werden würden und Manfred sein Leben retten solle. Schweren Herzens entschloss dieser sich, seine lieben Eltern zurückzulassen und aus Minsk zu fliehen. Wie Manfred Alexander ausdrückte, war es die eindrucksvollste und schwerste Entscheidung, die er jemals in seinem Leben getroffen hat, und er brauchte Jahre, um darüber hinwegzukommen.

Arnold Ortmann, Manfreds Fluchthelfer aus Minsk, gab ihm seinen Revolver und seine gelbe Armbinde mit dem schwarzen Hakenkreuz darauf, die ihn als Mitarbeiter des Baustabs Speer auswies. Die Armbinde ist eines der wenigen Erinnerungsstücke, die Manfred Alexander mit in sein neues Leben nach Amerika brachte. Täglich fuhren Lazarett-Züge mit verwundeten Soldaten von der Ostfront durch den Bahnhof von Minsk. Der letzte Waggon war üblicherweise mit Kohlen beladen, mit denen die Lokomotive und die kleinen Öfen in den Waggons beheizt wurden, in denen die Kriegsversehrten lagen. Als der Zug nachts am Bahnhof ankam, versteckte sich Manfred unter den Kohlen - sie schützten ihn vor der Kälte und er blieb unentdeckt. Am nächsten Morgen fuhr der Zug in Richtung Warschau weiter. Der Zug hielt zunächst in Baranowitschy, und Manfred, der in dem Kohletender zu erfrieren drohte, kletterte hinüber in die Waggons zu den auf Stroh gebetteten Soldaten. Manfred gab vor, auch verwundet worden zu sein, doch bald wurden die verletzten Frontkämpfer misstrauisch und Manfred wechselte die Waggons, um unentdeckt zu bleiben. Als der Zug in Warschau ankam, wurde er von der Gestapo geschnappt und eingesperrt. Doch Manfred ließ sich nicht entmutigen. Er kann sich unter dem Zaun durchgraben und befreien. Zurück am Bahnhof erklärte er dem Bahnhofsaufseher, dass er all seine Papiere verloren habe und nach Berlin müsse. Der Aufseher – dem jungen Mann wohlgesonnen – ließ ihn den Zug besteigen, vor allem die gelbe Armbinde weckte kein Misstrauen. Der Zugführer warnte ihm, dass die SS in Posen den Zug besteigen würde, um die Reisenden zu kontrollieren. Manfred fragte ihn, ob er sich auf der Toilette verstecken könne, der Zugführer willigte ein. Die SS kam wie erwartet in den Zug. Sie befragte den Zugführer, der erwiderte, dass alles in Ordnung sei – Manfred wurde nicht entdeckt.

In Berlin angekommen musste sich Manfred erst einmal am Bahnhof Zoo entlausen lassen. In Minsk wie auch in den Zügen waren Läuse überall gewesen, und die mangelnden Waschmöglichkeiten hatten das Problem noch zusätzlich verschärft. Sein erster Weg führte ihn zu seiner Freundin Helen Lohse in die Mommsenstraße. Doch dort konnte er nicht lange bleiben. Es wäre zu auffällig gewesen; zumal die Wohnung nicht weit von der seiner Eltern lag und Manfred somit Gefahr lief, von ehemaligen Nachbarn erkannt und an die Polizei verraten zu werden. Weil Manfred nicht wusste, wohin sonst gehen könnte, rief er seinen Freund Werner von Biel an und bat ihn um Hilfe. Werner überlegte nicht lange und bot dem Freund an, in seiner Wohnung in der Grolmanstrasse in Charlottenburg zu bleiben. Werners Wohnung lag direkt gegenüber einem Polizeirevier gelegen. Rückblickend sagt Manfred, war das der beste Ort zum Untertauchen. Direkt vor der Nase der Ordnungshüter würde man ihn am wenigsten vermuten. Werner selbst verließ die Stadt während dieser Zeit. Er gab Manfred Kleidung, Bergsteigerhosen und Stiefel, denn er wusste vom Vorhaben seines Freundes, in die Schweiz zu flüchten. Die Ausrüstung würde er in den Bergen gut gebrauchen können. In den kommenden Wochen bereiteten Manfred, Helen und Lucie ihre Flucht vor. Da die deutsche Grenze zur Schweiz scharf bewacht wurde, war ein direkter Grenzübertritt nicht möglich. Die Stückgolds kannten jedoch Zigarettenschmuggler, die zwischen Deutschland, Luxemburg und Belgien tätig waren und auch Menschen illegal über die Grenze halfen. Um die Fluchthelfer bezahlen zu können, brauchten die drei jedoch viel Geld. Helen und ihre Mutter verkauften einige ihrer Schmuckstücke. Die Schmuggler kannten die Schlupflöcher an der Grenze genau und wussten, wann die Grenzposten wechselten.

Nach nur wenigen Wochen in Berlin brach Manfred zusammen mit seiner Freundin und deren Mutter nach Luxemburg auf. Die Schmuggler fuhren aus Sicherheitsgründen getrennt von den dreien. Sie verabredeten, sich in einem Lokal in Luxemburg wiederzutreffen und dann über die Grenze nach Belgien zu gehen. Doch unglücklicherweise bestiegen Manfred, Helen und Lucie einen Zug, in dem auch Nazigrößen mitfuhren, sodass der ganze Zug streng kontrolliert wurde. Auch Manfred wurde nach seinen Ausweispapieren gefragt. Als er erklärte, dass er sie in seinem Abteil vergessen habe, forderten die Beamten ihn auf, sie zu holen, und folgten ihm. Am letzten Wagen angekommen sprang Manfred aus dem fahrenden Zug, der bereits zwischen Trier und Luxemburg war. Die restliche Strecke bis zu dem verabredeten Lokal legte Manfred per Anhalter zurück. Nachts brachten die Schmuggler ihn und die Frauen über die Ardennen nach Belgien hinüber. Da Helen zu schwach war, um alleine zu laufen, musste sie einer der Fluchthelfer huckepack nehmen und über die Berge tragen. Helenes Mutter Luice Gottberg war mit ihren 61 Jahren zwar beträchtlich älter, aber doch zäh genug, um den beschwerlichen Marsch zu meistern. Sie erreichten schließlich einen Vorort von Brüssel und fuhren von dort mit der Trambahn ins Zentrum, wo die Schmuggler sie in einem Nachtlokal unterbrachten, das Nick Lagranche gehörte. Sie bekamen ein Zimmer im Keller des Bordells, dass auch deutsche Soldaten aufsuchten. Sie blieben vier bis sechs Wochen. Luice Gottberg verkaufte die letzten Schmuckstücke, von dem Erlös beschafften sie sich gefälschte französische Papiere. Als die drei eines Tages zu ihrer Unterkunft zurückkamen, sahen sie einen schwarzen offenen Mercedes mit einem Mann vor dem Nachtlokal stehen. »Da weiß man sofort was los ist«, erinnert sich Manfred. »Man ist ja schon ganz darauf abgerichtet.« Zurück in ihr Quartier konnten sie jetzt nicht mehr. Auch die letzten ihrer Habseligkeiten aus Deutschland waren verloren. In Brüssel war es zu gefährlich für sie geworden, und sie flüchten über die grüne Grenze weiter nach Frankreich.

Doch in der ostfranzösischen Stadt Besançon nahe der Grenze zur Schweiz gerieten sie erneut in Gefahr. Deutsche Soldaten verübten in dem Ort eine Vergeltungsaktion an der Zivilbevölkerung, um den Mord an einem deutschen Soldaten zu sühnen. Sie fingen wahllos Bürgerinnen und Bürger auf der Straße ein: Männer, Frauen und Kinder sperrten sie in eine Kirche und setzen diese in Flammen. »Auf der Straße wäre unser Leben keinen Penny wert gewesen« so Manfred, »mit den zwei Frauen habe ich mich doch gewagt. Ich habe gesagt, ihr müsst mit mir kommen, denn es ist weniger auffallend, wenn man mit einer Frau oder zwei Frauen und noch dazu mit einer alten Frau geht.« Die Deutschen durchsuchten jedes Haus und jedes Hotel. In ihrer Verzweiflung gingen Manfred und seine Begleiterinnen zur St. Johannes-Kathedrale am Fuße des Berges Mont Saint-Étienne und baten den alten und blinden Monsignore Simoni, der ihnen öffnete, um Asyl. Mit dem wenigen Schulfranzösisch, dass sie beherrschten, vertrauten sie sich dem Monsignore an. Manfred berichtete, woher er kam und wohin er und die Frauen wollten. Sie versicherten ihm, keine deutschen Spione zu sein, sondern Flüchtlinge. Der blinde Simoni betastete ihre Gesichter und hörte sich ihre Geschichte an. Er war sehr vorsichtig. Schließlich führt er sie in die Kirche, öffnete eine Tür, die zu den Katakomben führte, in denen frühere Bischöfe bestattet waren. Für mehrere Tage versteckten er sie in der Krypta und brachte ihnen Essen und Wasser. Als die Gefahr vorüber war, nannte er ihnen ein Codewort, mit dem ein freundlicher Bauer nahe der Schweizer Grenze ihnen beim Grenzübertritt helfen würde.

Manfred, Helen und Luice machten sich auf den Weg über die Alpen. Sie gingen bei Nacht und versteckten sich am Tag. Sie sagten dem Bauern, was der Monsignore ihnen aufgetragen hatte. Der Bauer ließ sie ein und versteckte sie in seiner Scheune. »Er hat uns sogar ein sehr gutes Kaninchenessen gemacht«, erinnert sich Manfred. Von dem beschwerlichen Fußmarsch erschöpft blieben sie zwei Tagen bei dem Bauern. Früh morgens sollten sie sich auf seinem Anhänger unter dem Heu verstecken, und er fuhr sie in die Berge, wo die Grenzlinie verlief. Weiter mussten sie klettern. »Wir sahen die Grenzsoldaten mit ihren Hunden, aber wir hatten Glück. Es regnete, und Hunde können keinen Geruch aufnehmen, wenn es regnet.« Sie legten sich flach ins Gras, als die Grenzposten keine hundert Meter an ihnen vorüberzogen. Sie kletterten und glaubten schon, die Schweiz erreicht zu haben, aber es lag noch ein weiterer Berg vor ihnen. Endlich erreichten sie Schweizer Boden. Sie schliefen ein, und als sie am nächsten Morgen erwachten, blickten ihnen Schweizer Grenzsoldaten ins Gesicht. Weil diese einen ähnlichen Helm trugen wie die Deutschen, dachten die drei, sie seien nun doch noch gefasst worden. Die Soldaten brachten sie zunächst ins Dorf, Manfred kam dort ins Gefängnis und Helene sowie Luice zur Heilsarmee nach Neuchâtel. Aus Angst, wie viele andere illegale jüdische Flüchtlinge in dieser Zeit von den Schweizer Behörden wieder an die deutsche Grenze gebracht zu werden, nahm Manfred sogleich Kontakt zu jüdischen Flüchtlingshilfe in der Schweiz auf und schilderte seine Situation in der Hoffnung, eine Abschiebung zu verhindern.

Da Manfred einen Bruder in den USA vorzuweisen hatte, gab die Polizeidirektion dann schließlich die Erlaubnis, dass Manfred in der Schweiz interniert und nicht zurückgebracht werden sollte. Zuerst wurde er nach Witzwil ins Zuchthaus überstellt. Dort musste zusammen mit Schwerverbrechern und sogar SS-Flüchtlingen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem Feld arbeiten. Nach sechs Monaten - Ende 1942 - wurde er in das kleinen Örtchen Raron nahe des Matterhorns gebracht, wo er Baumstämme an den Berghängen sprengen musste. Nach weiteren sechs Monaten verlegte man ihn schließlich in ein Arbeitslager nach Olsberg bei Basel, wo er nur noch zehn Kilometer von seiner Freundin Helene entfernt war, die im Flüchtlingsheim in Liestal lebte. Endlich erhielt er die Genehmigung, seine Freundin Helene zu heiraten. Der Bürgermeister eines kleinen Ortes traute die beiden, danach mussten beide mehrere Stunden zu Fuß in ihre Lager zurücklaufen. Da die Situation der Flüchtlinge in der Schweiz auch im Ausland immer mehr bekannt wurde, stieg der Druck, die Unterbringungsmöglichkeiten für diese Menschen zu verbessern. Es soll ein Familienheim errichtet werden, und Manfred, der sich auf dem Bau auskannte, bekam eine Stelle für den Umbau eines alten Hotels zu einem Flüchtlingsheim für Familien in Lugano. Auch Helene und ihre Mutter durften nach Lugano kommen. Sie arbeiteten beide für den Lagerleiter und waren nun zusammen mit Manfred in einem Zimmer untergebracht. Die Lebensbedingungen in dem neuen Flüchtlingsheim stellten eine immense Verbesserung für die drei dar. Sie lebten bis zum Ende des Krieges hier, hatten Arbeit und ein Auskommen.

Aus einem Brief des schwäbischen Eisenbahnbauarbeiters aus Minsk, der ihm zur Flucht verholfen hatte, erfuhr Manfred, was aus seinen Eltern geworden war. Arnold Ortmann schrieb, dass Manfreds 61-jähriger Vater später in die Schneiderei der deutschen Besatzungsbehörden von Minsk abkommandiert worden war. Dann aber starb im Ghetto an einem Herzinfarkt, seine Mutter Judith Alexander wurde beim Versuch, ihre letzten Habseligkeiten am Ghettozaun gegen etwas Essbares zu tauschen, von der SS erschossen. Für Manfred war die Nachricht vom tragischen Tod seiner Eltern schmerzhaft, zugleich aber war er froh, dass sie nicht noch mehr hatten leiden müssen und wie viele andere Ghettobewohnerinnen und -bewohner in Gaswagen erstickt worden waren.

1946 erteilte das amerikanische Konsulat Manfred endlich die Erlaubnis für die Ausreise, Manfreds Bruder Gert in New York hatte es möglich gemacht. Nur Helens Mutter wurde zunächst das Visum verweigert, schließlich aber erreichten sie auch dies und verließen gemeinsam die Schweiz über Genua Richtung New York. An der Ostküste wurde jedoch gestreikt, sodass kein Schiff entladen wurde. Die Visa, die nur für sechs Wochen gültig waren, liefen aus. Glücklicherweise konnten sie aber auf ein Truppenschiff umsteigen, das entladen wurde. Zunächst lebten sie mit in Gerts kleinem Apartment, mieteten aber bald eine eigene kleine Wohnung in Queens an. Manfred begann wieder, auf dem Bau zu arbeiten, und konnte sich bis zum Bauleiter für Apartmentgebäude und Fabriken hocharbeiten. Später wurde er Manager und Makler in New York City. Queens aber wurde seine neue Heimat. Nur wenige Blocks entfernt, die er mit seiner Frau und seiner Schwiegermutter nach seiner Ankunft bezogen hatte, lebte Manfred Alexander bis zu seinem Tod.

Dass er seine Rettung während des Krieges der Selbstlosigkeit und Uneigennützigkeit vieler Menschen zu verdanken hatte, vergaß er nie. Am 22. März 2005 wurde im Beisein von Manfred Alexander im israelischen Konsulat in New York seinem 1972 verstorbenen Freund Werner von Biel die Auszeichnung »Gerechter unter den Völkern« verliehen. Dessen Enkel William Cook, der seinen Großvater nie kennengelernt hatte, nahm die Medaille stellvertretend entgegen. »Es war eine Tat großer Menschlichkeit und wahrer Freundschaft«, sagte der nunmehr 85-jährige Manfred Alexander in seiner Rede bei dem Festakt in New York. »Es gab nicht viele Helden unter den Deutschen«, erklärte Manfred weiter, aber sein Freund Werner von Biel war einer von ihnen. 500 von 20 000 Rettern, die in Yad Vashem geehrt werden, waren Deutsche. Sie halfen, versteckten und retteten Jüdinnen und Juden und riskierten dabei ihr eigenes Leben. Manfred Alexander war es wichtig, noch mitzuerleben, dass sein Freund für alles, was er für ihn getan hatte, gewürdigt wird. Nur wenige Monate später, am Neujahrstag 2006, starb er in Kew Gardens Queens, New York.

Erstellt von Anja Reuss