Das Leben vor dem Krieg
Tamara Jakovlevna Osipova wurde 1929 in Polock geboren. Seit ihrem sechsten Lebensjahr wohnte sie in Minsk, im Kuznečnyj pereulok (Schmiedgasse), in der Nähe des Flughafens (heute Čkalovastr.), in einer kleinen Wohnung eines zweistöckigen Hauses. Ihre Familie hatte in der Wohnung nur ein Zimmer, in einem anderen Zimmer wohnte eine Frau, „Tante“ Lida mit ihrem kleinen Sohn. Dort ließen sich die Eltern von Tamara scheiden. Die Mutter, Maria Borisovna, hatte eine juristische Ausbildung und war in der Staatsanwaltschaft tätig. Der jüngere Bruder Jura besuchte den Kindergarten. Vor dem Krieg besuchte Tamara fünf Klassen. Die Ferien verbrachte sie oft bei ihrer Tante Tanja, die in der Arbeitersiedlung Savodskoj in der Nähe von Osipoviči wohnte.
Der Kriegsbeginn
An die ersten Kriegstage erinnert sie sich so: „Als der Krieg begann, war ich nur 12 Jahre alt. Ich erholte mich bei der Tante Tanja in der Arbeitersiedlung Savodskoj. Die Mutter gab so etwa gegen den 24. Juni ein Telegramm aus Minsk auf, damit ich dringend nach Hause zurückkehre. Von dem Krieg wusste man natürlich in der Siedlung, weil an den ersten Tagen viele Bomben fielen. Alles war sehr unerwartet. Die Leute dachten, jetzt wird bombardiert, aber danach kehrt das gewöhnliche und friedliche Leben wieder zurück“. („Pravedniki narodov mira Belarusi: živye svidetel'stva Belarusi“/„Die belarussischen Gerechte unter den Völkern: Lebende Zeugen von Belarus“, Minsk 2009, S. 113) Nicht weit von der Stadt begegnete Tamara einem Soldaten, der befahl ihr zu ihrer Tante zurückzukehren. Nach einigen Monaten holte ihre Mutter sie in der Arbeitersiedlung ab: „Als wir zurück nach Minsk kamen, das war etwa im Herbst, erkannte ich die Stadt nicht wieder. Ruinen, alle Geschäfte waren ausgeplündert, unsere spärliche Vorräte waren alle.“ (Ebd., S. 114) Der Bruder Jura wurde zusammen mit dem Kindergarten evakuiert, man wusste nichts über sein Schicksal.
Die Wiederstandsaktivitäten und Rettung der Juden
Die Mutter von Tamara schloss sich zusammen mit einem Bekannten der Widerstandsbewegung an. Sie half den Juden Ausweispapiere zu fälschen. Tamara Jakovlevna erinnert sich: „Zu uns nach Hause kamen ständig Studienfreunde meiner Mutter, ihre Arbeitskollegen und sogar unbekannte Leute. Die Mutter war einige Zeit Sekretärin der Parteiorganisation an der juristischen Fakultät. Die Studenten kannten sie gut und kamen oft zu uns. Unter den Bekannten meiner Mutter waren selbstverständlich viele Juden. Yu uns kam Rafa, Rafaėl' Ėmmanuilovič Bromberg, und die Mutter begann mit ihm, die Unterlagen für künftige jüdische Untergrundkämpfer zu fälschen. Rafa wohnte mit seiner Frau und der kleinen Tochter in einem Wohnheim in der Zaslavskaja Str. Ich besuchte sie oft. Er hatte eine russische Frau, darum landete er nicht im Ghetto. Nach den neugemachten Ausweispapieren wurde Rafa Zigeuner. Es wurden auch Papiere für Tante Lena, Elena Davydovna, eine Bekannte der Mutter gemacht. Sie zog bald zu uns. Der Mann von ihr war auch Russe. Unsere Hausnachbarin Ljuba, nachdem sie ins Ghetto gesteckt wurde, war ständig bei uns.“ (Ebd.) Um alle Leute die bei uns wohnten zu verpflegen, zog Tamara durch die Dörfer und bettelte: „Es wurde viel gegeben, kaum zu tragen. So waren die Leute […]“ Über sie wurden Medikamente für Partisanen weitergeleitet: „Ich war auch in der Pharmafabrik in der Moskovskaja Str. Da arbeitete eine bekannte Ärztin, die mir Medikamente gab, welche eigentlich für den Verkauf bestimmt waren. Ich kam so gegen elf Uhr, sie hatten gerade Pause, und sie warf mir aus dem Fenster ein Päckchen zu. Ich sollte mich verstecken, wenn der Polizist um die Ecke biegt, damit mich keiner sieht wie ich das Päckchen fange. Mit den Medikamenten versorgte die Mutter danach die Partisanen.“ (Ebd., S.115) Die Mutter von Tamara hatte Kontakte zu den Partisanen und sie schleuste einige Juden in die Partisanenzone. Da das Kind eine aktive Tätigkeit der Mutter erschwerte, wurde Tamara bald zur Tante Tanja gebracht. Nach dem Krieg erfuhr Tamara, dass sich ihre Mutter aktiv an den Vorbereitung des Attentats auf den Gauleiter Kube beteiligt hatte: „Die Mutter lernte Elena Mazanik kennen, sie war bei Kube tätig und gehörte zu der kleinen Gruppe, die nicht durchsucht wurde. Die Mutter brachte ihr eine Mine, die Galina anlegte. Danach wurde Galina mit der ganzen Familie und die Mutter über die Frontlinie hinübergesetzt.“ (Ebd.)
Als es ein Gerücht in der Arbeitersiedlung umging, dass ein Strafkommando kommt, flohen Tamara und ihre Tante in den Wald. Einige Zeit wohnten sie in einer Erdhütte, danach gelangen sie zu den Partisanen.
Das Nachkriegsleben
Die Zeit nach der Befreiung beschreibt Tamara Jakovlevna so: „Nach dem Krieg war eine sehr schwere Zeit: Verhaftungen, ständige Vorladungen zu Behörden... Die Mutter wurde auch verhaftet, darüber erfuhr ich erst vor kurzem. Sie verpflichtete sich damals schriftlich, für die Nichtverbreitung der Informationen. Gerettet wurde sie dank eines Generals, der bis zu Stalin schaffte […]“ (Ebd., S.115)
Nach dem Krieg absolvierte Tamara die Schule und die Hochschule für Fremdsprachen, wo sie zur Englischlehrerin ausgebildet wurde. Bis zu ihrem Rentenalter und noch zwei Jahre danach, war sie für Fremdsprachen an der medizinischen Hochschule tätig.
Die Mutter von Tamara Jakovlevna wurde mit dem Titel Heldin der Sowjetunion gewürdigt. 1995 erhielten sie und ihre Tochter den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“.
Erstellt von den Mitarbeitern der Geschichtswerkstatt Minsk