Zeitzeugenarchiv der Minsker Geschichtswerkstatt

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Obos Soja

Obos Soja

Gruppe 
Rassistisch Verfolgte (Jude/Jüdin)
Herkunftsland 
Belarus
Geburtsort 
Minsk
Beruf 
Arbeiterin in der Fabrik Horizont
Unterbringung/Inhaftierung 
Minsker Ghetto
Schicksal 
Rettung durch die Flucht am Tag des letzten Pogroms im Minsker Ghetto
Berichtsart 
Familiengeschichte

Geschichte der Überlebenden des Minsker Ghettos Soja Obos

Polina Piljak, Wiktorija Bakumenko, Klasse 11, Gymnasium Nr. 34, Minsk

Wissenschaftliche Betreuerin: Darja Kosjakowa, Geschichtslehrerin, Gymnasium Nr. 34, Minsk

Einleitung

„Verlorene Kindheit“ — so bezeichnete die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch das Schicksal der Kinder, die den Krieg erleben mussten. Für zahlreiche belarussische Kinder aus den 1940er-Jahren blieb die Kindheit für immer als ein Überlebenskampf im schlimmsten Krieg der menschlichen Geschichte in Erinnerung. Sie werden oft kleine Erwachsene genannt, weil die Schwierigkeiten, die sie durchmachen mussten, ihre Bemühungen ums Überleben und Sorgen um die der Angehörigen sie viel früher reifen ließen, als sie es sollten. Besonders hart traf es jüdische Kinder, weil die Rassentheorie der Nationalsozialisten die Ausrottung des ganzen jüdischen Volks verlangte.

Auf dem Gebiet von Belarus bestanden in den Jahren des Großen Vaterländischen Krieges 166 Ghettos, darunter war das Ghetto in Minsk nach der Opferzahl das größte. Nach verschiedenen Angaben gab es dort bis zu 100.000 jüdische Häftlinge, über 90 % von ihnen wurden umgebracht. Dabei bleiben die Schicksale der meisten bis heute unbekannt. Dazu kommt, dass auch 70 Jahre nach dem Kriegsende die genaue Erforschung und Dokumentierung der Geschichte des Minsker Ghettos eine Sache der Zukunft bleibt. Umso dringender stellt sich die Frage der Aufzeichnung der Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden, weil sie die letzten Augenzeugen der Ereignisse sind, die immer noch auf Forscher warten.

Seit der Unabhängigkeit von Belarus engagieren sich die überlebenden NS-Opfer selbst verstärkt in der Bewahrung der Erinnerung: viele ehemalige Ghetto-Häftlinge haben bisher ihre Lebensgeschichten auf Papier festgehalten. Dazu gehören die Erinnerungen der Überlebenden des Minsker Ghetto Frida Reisman, deren Vater neben Michail Gebelew die Untergrundbewegung im Ghetto mitorganisiert hat, Maja Krapina-Lewina, die zusammen mit anderen jüdischen Kindern von den Bewohnern des Dorfes Poretschje im Kreis Puchowitschi gerettet wurde, und Michail Treister, der nach dem Ghetto noch durch das Konzentrationslager in der Schirokaja-Straße in Minsk gegangen ist, und einiger anderer. Manche Beiträge wurden im Buch „Kriegskindheit: lebende Zeugnisse von Belarus“ veröffentlicht [5].

Die Bewahrung der Erinnerung und das Gedenken an die Holocaustopfer hat sich die Geschichtswerkstatt „Leonid Lewin“ in Minsk zum Anliegen gemacht. Die Mitarbeiter der Geschichtswerkstatt haben ein digitales Zeitzeugenarchiv angelegt, das stets ergänzt wird und mittlerweile einige Dutzend Erinnerungen und Interviews mit den Überlebenden des Minsker Ghetto enthält. Interviews mit den ehemaligen Ghetto-Häftlingen, die während einer Oral-History-Expedition im August 2017 aufgezeichnet wurden, findet man jetzt auch auf der Website des Belarussischen Archivs für Oral History. Dazu gehört auch das Gespräch mit Soja Obos, das wir für diesen Beitrag aufgearbeitet haben.

Soja Obos (geborene Schmerlis) kam als Jugendliche ins Minsker Ghetto. Schon mit zwölf Jahren musste sie hart ums Überleben kämpfen. Sojas Gedächtnis hat zahlreiche Details zu den Lebensbedingungen im Ghetto, Beziehungen zwischen den Menschen, die sich beiderseits des Stacheldrahts befanden, sowie zu den Überlebensstrategien der Häftlinge, mit denen sie sich und ihre Nächsten zu retten versuchten, aufbewahrt.

Bei der Aufbereitung des vollständigen lebensgeschichtlichen Interviews mit Soja Obos über das Minsker Ghetto, das Leben in der Stadt vor und nach dem Krieg haben wir uns auf die aus unserer Sicht wichtigsten Informationen über das Leben im Ghetto sowie ihre Flucht aus dem Ghetto in die Partisaneneinheit von Schalom Sorin konzentriert, die hier weiter präsentiert werden.

Leben vor dem Krieg

Soja Schmerlis wurde in der Familie der Minsker Juden Jakow und Rijekka Schmerlis im Jahr 1929 geboren. Die Familie hatte vier Kinder, sie alle besuchten verschiedene Schulen: die älteren Schwestern lernten in einer jüdischen Schule, Soja in einer belarussischen und der jüngste Bruder Issaak in einer russischen. Die jüngeren Kinder konnten kein Jiddisch, zu Hause sprach man russisch, aß Schweinefleisch und ging nicht in die Synagoge. Sojas Großmutter Sara war die einzige in der Familie, die jüdische Traditionen pflegte. Also kann man behaupten, dass zumindest die jüngere Generation der jüdischen Familien im Geiste der Sowjetzeit erzogen wurde und sich gar nicht von den anderen Bewohnern von Minsk, der multikulturellen Hauptstadt des sowjetischen Belarus, abhob.

Krieg

Als der Krieg begann, wurde Sojas Vater ins Lager in Drosdy, einem Vorort von Minsk, eingewiesen, das Mädchen und ihre Mutter brachten ihm zu essen. Nachdem der Vater entlassen worden war, versuchte die Familie aus der Stadt zu flüchten. Soja Obos sagt, dass die Familie nichts von der Hitlerschen Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung wusste, sie wollten einfach die besetzte Stadt verlassen; der Versuch gelang ihnen aber nicht.

Aus ihren Kinderjahren weiß Soja noch gut, wie der Befehl über die Einrichtung des Ghettos und die Umsiedlung aller Juden der Stadt dahin buchstäblich „an jedem Zaun“ in Minsk aushing. In den zweieinhalb Jahren im Ghetto zog die Familie Schmerlis fünfmal um, um sich vor Pogromen zu retten: im Sommer 1941, während der Gründung des Ghettos, bezog die Familie ein Haus in der Samkowaja-Straße, nach dem zweiten Pogrom im November siedelten sie in die Ratomskaja-Straße über, nach dem 2. März 1942 kam die Familie in eine teilweise aus dem Boden ragende Erdhütte in der Flaks-Straße, danach in die Opanski-Straße und die letzten Monate vor der Auflösung des Ghettos wohnten sie in der Suchaja-Straße. Nach jedem Pogrom schrumpfte das Ghettogebiet, indem ein Teil dem so genannten „russischen Bezirk“ zugeschlagen wurde.

Eine Rettung bei Pogromen war für die Mitglieder der Familie der Ausweis von Sojas Vater, der in den Einrichtungen deutscher Besatzungsbehörden als Elektriker arbeitete. Soja selbst musste zusammen mit anderen Ghettoinsassen auf dem Güterbahnhof arbeiten, wo sie Waggons reinigte und Bahnsteige und Rampen sauber machte. Einen Pogrom ließ man die Angehörigen der Familie Schmerlis sogar im Keller des Gestapogebäudes abwarten (die deutschen Behörden hielten den Vater für eine wertvolle Arbeitskraft), einige Tage lang musste Soja die leer zurückgekommenen Gaswagen („Seelentöter“, wie die Einheimischen sie nannten) putzen.

Schwere Lebensbedingungen und Versuche, durch den Stacheldraht oder auf dem improvisierten Markt die restlichen Sachen gegen Lebensmittel einzutauschen, Hunger und Krankheiten, die im Ghetto tobten, Nachtaktionen und das immer kleiner werdende Ghetto, das Eintreffen ausländischer Juden und die Einrichtung des Sonderghettos, aus dem keine Rettung gab: Das alles prägte sich dem Kind, das in dieser unmenschlichen Lage zu überleben versuchte, mit vielen Einzelheiten ein.

Sojas ganze Familie kam im Ghetto um: Ihre Verwandten (Großmutter, Onkel und Tanten, Vettern und Cousinen) wurden beim zweiten Pogrom im November 1941 ermordet. Die Mutter wurde sie im Herbst 1942 getötet, als sie etwas Holz für den Ofen, an dem sich die Familie aufwärmte, bringen wollte. Ihr Vater und die Schwestern wurden bei der Auflösung des Ghettos im Herbst 1943 umgebracht.

Soja selbst konnte aus dem Ghetto fliehen, indem sie und ihre Freundin Maja früh an dem Tag des letzten Pogroms unter den Drahtzaun hinauskrochen. Die Mädchen verließen Minsk durch den Vorort Tutschinka und das Dorf Medweschino, in dem sie der jungen Frau Katja begegneten, die einige weitere gerettete Häftlinge des Minsker Ghetto in den Nalibokskaja-Wald zu den Partisanen führte.

Ab Herbst 1943 bis zur Befreiung von Minsk blieb Soja in der Partisaneneinheit von Sorin (Einheit Nr. 106). In der jüdischen Partisaneneinheit kümmerte sich das Mädchen zusammen mit anderen um die alltäglichen Angelegenheiten: Es holte Holz aus dem Wald, half beim Kochen und im Feldlazarett, erfüllte Aufgaben der Älteren. Dank der Sorin-Einheit überlebte Soja den Krieg und kehrte schon Anfang Juli 1944 in die befreite Heimatstadt zurück.

Nachkriegsleben

Sofort nach dem Krieg kam Soja als Vollwaise ins Kinderheim. Später machte sie eine Ausbildung, heiratete und bekam eine Tochter zur Welt. Lange Zeit arbeitete sie in der Fabrik Horizont in Minsk. Heute hat Soja Obos eine große Familie, zu der ihre Tochter, Enkeltöchter und Urenkelkinder gehören.

Als Insassin des Minsker Ghetto wurde Soja Obos als minderjähriges Opfer des Nationalsozialismus anerkannt, auch hat sie den Status einer Partisanin im Großen Vaterländischen Krieg (als Mitglied der Partisaneneinheit Nr. 106). Seit den 1990er-Jahren engagiert sich die Frau aktiv im Verband der jüdischen Überlebenden von Ghettos und Konzentrationslagern und nimmt an Veranstaltungen zum Gedenken an die Holocaustopfer in Belarus teil.

Schlussbemerkungen

Soja Obos gehört zu den wenigen Häftlingen, die sich aus dem Minsker Ghetto retten konnten, einem Ort, wo unschuldige Menschen festgehalten wurden, um sie dann zu ermorden. Als Mädchen überlebte sie zwar den Holocaust, verlor aber die ganze Familie — und ihre Kindheit. Den Kindern und Jugendlichen, denen die Flucht aus dem Ghetto gelang, half wohl recht oft, dass sie davor kaum von Angstgefühlen betroffen waren und die Gefahr, in der sie schwebten, nicht voll begriffen, während die Erwachsenen gerade dadurch gelähmt wurden. Aber man kann nicht sagen, dass Soja Obos (ebenso wie viele andere Holocaustopfer) diese traumatische Geschichte bewältigt hat: die Tatsache, dass ihre Kindheit eigentlich mit 12 Jahren abrupt endete, hinterließ für immer eine tiefe Spur in ihren Erinnerungen. Dieses Trauma ist sie auch heute noch nicht losgeworden.

In den Jahren des Krieges wurden rund 100.000 Menschen jüdischer Nationalität in Minsk ermordet. Namentlich sind lediglich rund 10.000 von ihnen bekannt. Nach dem Krieg wurden die Angaben zu den Opfern weder präzisiert noch dokumentiert und die Ghettoinsassen selbst sprachen nur ungern von ihrem Leid. Die Erinnerungen, die bei Interviews wie unseres aufgezeichnet werden, können und müssen eine wichtige Oral-History-Quelle für die Erforschung der Geschichte des Minsker Ghetto und des Holocausts auf dem belarussischen Gebiet werden. Hinter jeder Opferzahl verbergen sich Schicksale von Menschen und dieses Wissen ist für Forscher, die die Geschichte des Minsker Ghetto noch schreiben werden, sehr wertvoll. Aber die Hauptsache ist, dass diese Lebensgeschichten einfachen Menschen wichtig sind, die sich an alle, die den Schrecken namens Krieg am eigenen Leib erlebt haben, erinnern, die Überlebenden hoch achten und der Toten gedenken.

Quellenverzeichnis

Balakiraŭ, V. F., Kozak, K. I. (Hrsg.), Minskae geta 1941−1943 hh.: Trahedyja. Heraizm. Pamjac'. Minsk 2004.

Gurevič, A., „Sud'by evrejskich detej v gody okkupacii“, in: Evrei Belarusi 2, Minsk 1998.

Aleksandrenko, L. A., Kozak, K. I., Kuzmičeva, T. A. (Hrsg.), Detstvo vojny 1941−1945 gg.: živye svidetel'stva Belarusi. Minsk 2011.

Balakirev, V. F. u. a. (Hrsg.), Spasennaja žizn': Žizn' i vyživanie v Minskom getto. Minsk 2010.