Ermordet in Swislotsch. Tragisches Schicksal der Familie Litwin
Jekaterina Anjuchowskaja, Klasse 10, Oberschule Nr. 2, Ossipowitschi
Wissenschaftliche Betreuerin: Neonila Zyganok, Geschichtslehrerin, Oberschule Nr. 2, Ossipowitschi
Wie alles begonnen hat
Letztes Jahr bekam meine Klasse eine neue Geschichtslehrerin, Neonila Zyganok. Ihr Vortrag zur Geschichte des Holocausts interessierte mich sehr und ich wollte mich intensiver mit diesem Thema beschäftigen und mehr über Holocaustopfer aus unserem Kreis und unserer Stadt erfahren.
Solchen Büchern wie „Krieg: bekannt … und unbekannt“ [1] und „Pamjat“ für den Kreis Ossipowitschi kann man entnehmen, dass während des Zweiten Weltkrieges, in dem jeder dritte Einwohner der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik ums Leben kam, im Kreis Ossipowitschi 3829 friedliche Bürger von den Faschisten erschossen, erhängt bzw. zu Tode gefoltert sowie 50 Dörfer, davon zwölf zusammen mit allen Bewohnern verbrannt wurden. Ca. 3884 Menschen wurden nach Deutschland verschleppt [4, S. 198–199]. Zu den ermordeten Zivilisten werden dabei auch Juden gezählt. Nach offiziellen Schätzungen gab es wenigstens 1720 jüdische Opfer (45 % aller Ermordeten) [1, S. 6]. In den Erinnerungen der Einheimischen, die im Buch „Krieg: bekannt … und unbekannt“ veröffentlicht sind, finden sich recht viele Informationen zum Schicksal der jüdischen Bevölkerung im Kreis Ossipowitschi. Aber es bleiben auch viele weiße Flecken.
Unter den Bildern, die im Buch enthalten sind, sah ich das Foto eines jungen Mannes mit der Unterschrift „Aba Litwin“. Ein geistvolles Gesicht mit feinen Zügen, lockiges Haar, nachdenkliche dunkle Augen … Wer war er? Warum findet sich sein Bild noch unter den Fotos der Bewohner unseres Kreises aus der Vorkriegszeit – aber in den Kapiteln zu den Nachkriegsjahren nicht mehr?
Ich begann zu Aba Litwin zu recherchieren und stieß auf folgende Geschichte, die mich erschütterte: „Aba Litwin wurde beim Pogrom am 14. Oktober 1941 ermordet. Er versteckte sich bei Marijas Bruder Iwan auf dem Dachboden und dessen Frau Jekaterina verriet ihn an die Deutschen und Polizisten. Sie sagte: „Geht und holt den Juden“ [1, S. 398].
Von Zylja Rubintschik, in deren Erinnerungen ich diese Erwähnung von Aba Litwin gelesen hatte, erfuhr ich, dass Abas Tochter Ljudmila in Bobruisk lebt. Unsere Lehrerin Neonila Zyganok, meine Freundin und Helferin Olga Jaromitsch und ich besuchten Ljudmila Kowaljowa (geborene Litwin), um ein Interview mit ihr über ihre Familie und die Geschehnisse in Swislotsch während des Krieges zu machen. Die Frau empfing uns freundlich und war bereit, ihre Erinnerungen mit uns zu teilen. Auch konnte ich für meine Studie die Erinnerungen anderer Alteingesessener aus dem Ort Swislotsch verwenden, die von Neonila Zyganok und ihren Schülern früher aufgezeichnet worden waren. Aus diesen und anderen verfügbaren Quellen fügte sich nach und nach das Bild der damaligen Ereignisse in Swislotsch zusammen.
Ort Swislotsch vor dem Krieg
Nach Erinnerungen der Einheimischen war Swislotsch vor dem Krieg ein besonderer Ort. Sehr ansprechend schildert es Zylja Rubintschik: „… auf der rechten Seite sieht man den Fluss Swislotsch, dann kommt das Schloss [so nennen die Einheimischen die Ruine des Gutshauses des Großgrundbesitzers Nesabytowski, Anm. der Verf.] an der Stelle, wo der Swislotsch in die Beresina mündet. Das ist ein wunderbarer Erholungsort. Zu uns kamen Leute aus Leningrad [heute Sankt-Petersburg] zum Sommerurlaub. Abends, wenn Dampfer von Bobruisk nach Borissow auf der Beresina fahren, wenn es dunkel ist und diese Lichter schimmern … Es ist so reizvoll, dass man dafür schlicht keine Worte findet. Schönheit pur!“ [1, S. 392]
Georgi Sabawski erzählt: „Bis 1926 war Swislotsch eine Kreisstadt und zählte insgesamt wenigstens eintausend Einwohner, davon 600 bis 700 Juden. In verschiedenen Einrichtungen arbeiteten nebeneinander Juden und Belarussen, Polen und Russen, etwa im Floßbetrieb (geleitet vom Juden Lipski) und der Schneidergenossenschaft oder in Geschäften, in denen auch jüdische Einwohner beschäftigt waren“ [1, S. 374].
Belarussen, Juden, Russen und Polen lebten also in Swislotsch in Eintracht miteinander. Zu Hause sprachen die Juden Jiddisch, beherrschten aber auch Belarussisch und Polnisch. Die Belarussen ihrerseits verstanden Jiddisch. Diese Erinnerungen werden durch Dokumente bestätigt. Nach Angaben in der Chronik „Pamjat“ für den Kreis Ossipowitschi hatte der Ort um 1900 1178 Einwohner, fast zwei Drittel von ihnen waren Juden [4, S. 68]. Bis Mitte der 1920er-Jahre wuchs die Bevölkerungszahl auf etwa 1825, 742 Juden machten 41 Prozent davon aus, wie es aus den Ergebnissen der sowjetischen Volkszählung von 1926 hervorgeht [2, S. 214–215].
In dieser Zahl war auch die große Familie Litwin mitgerechnet.
Familie Litwin vor dem Krieg
Zu meinem großen Bedauern lassen sich Einzelheiten über das Leben dieser Familie sehr schwer ermitteln. Nur Kinder haben den Holocaust überlebt und ihre Erinnerungen sind bruchstückhaft. Zylja Rubintschik (geb. 1928) — Aba Litwin war ihr Onkel mütterlicherseits — beschreibt seine Familie wie folgt: „Aba Litwin ist mein Onkel, Stiefbruder meiner Mutter, sie hatten einen Vater also, aber verschiedene Mütter. Von der zweiten Frau hatte mein Großvater die Kinder Aba (geb. 1912), Boris (geb. 1920), Michail (geb. 1918) und Fanja (geb. 1915). 1927 wurden dem Großvater die bürgerlichen Rechte aberkannt, deswegen gingen Fanja und Michail in den 1930er-Jahren nach Russland und vor dem Krieg kam dann Fanja mit ihrer Tochter Rosa nach Swislotsch zurück“ [1, S. 390–391].
Aba Litwins Tochter Ljudmila Kowaljowa erzählte, dass ihre Mutter Marija Belarussin war. Aber Marijas Eltern, die Bauern waren, trugen einen auffälligen Familiennamen: Man. Ljudmila weiß nicht, welche Nationalität sie tatsächlich hatten, weil es in Swislotsch viele Menschen mit für das belarussische Dorf ungewöhnlichen Namen gab: Rubinschtein, Epschtein, Man. Die Frau vermutet, dass ihre Vorfahren Deutsche oder Juden waren. Aber sie selbst hielten sich für Belarussen.
In der ersten Ehe heiratete Marija einen Offizier, er trug den Namen Saizew und war er bei Moskau stationiert. 1923 wurde der Sohn Georgi geboren. Nach dem tragischen Tod ihres Mannes kehrte Marija mit dem Sohn nach Swislotsch zurück. Ihre Mutter war schon gestorben und sie lebte bei ihrem Vater, arbeitete in der Landwirtschaft und nähte.
Nach einer Weile lernten Marija und Aba Litwin einander kennen und verliebten sich, obwohl sie einen Altersunterschied von zehn Jahren hatten. Natürlich war man in Abas Familie gegen dieses Verhältnis argwöhnisch. So erinnert sich Ljudmila Kowaljowa daran: „Zuerst waren sie gegen die Heirat, weil die Mutter ja älter als der Vater war, sie hatte ein Kind und war Russin. Wozu also? Einmal passierte Folgendes. Die beiden gingen durch die Straße und da kam ihnen eine Verwandte des Vaters entgegen und sagte: „Ich würde dich lieber im Sarg liegen sehen als mit ihr herumschlendern.“ Er glaubte, die Mutter verstehe nichts. Aber da verstand ja jeder die jüdische Sprache. Es gab viele jüdische Familien, sie hatten stets Umgang mit Belarussen. Die Mutter sagte dem Vater etwas dazu. Ach, wenn das so ist! In dem Augenblick gingen sie gerade an der Gemeindeverwaltung vorbei, traten hinein und schlossen die Ehe“ [3, Min. 03:13–04:00] Aber allmählich regelte sich alles. Marija war klug, fröhlich und gesellig, führte einen ordentlichen Haushalt. Überall sah man die Eheleute zusammen. 1935 kam die Tochter Ljudmila und 1937 ihre Schwester Walentina zur Welt. Ihr Haus war groß und stand in der Hauptstraße. Abas Familie wohnte bei seinen Eltern Aisik und Mira. Es ging ihnen gut, sie lebten im Wohlstand. Ljudmilas Großvater und Vater waren Zuschneider, Anfang 1930er-Jahre schlossen sie sich der Genossenschaft an, arbeiten aber auch weiter privat und verdienten gutes Geld. Laut Ljudmila Kowaljowa kleidete sich ihre Mutter sehr schön, trug teure Sachen („Kaschmirkleider“, „einen Persianer hatte sie und eine Pelzjacke aus Feh“), denn Aba fuhr nach Minsk, kaufte Stoffe und nähte schicke Kleidung für seine Frau und Kinder.
Leider weiß Ljudmila jetzt nur wenig von ihrem Vater und seiner Familie. Sie erinnert sich mit Wärme an Großvater Aisik: „Opa war sehr nett. Mollig, rund und lieb. Er nahm mich auf den Arm und tanzte mit mir. Er war Zuschneider, stellte mich auf seinen Zuschneidetisch, damit ich darauf hüpfte“ [3, Min. 02:52–03:09]. Großmutter Mira war schwer krank und konnte nach einem Hirnschlag kaum durch die Wohnung gehen. Aba Litwin, so seine Tochter, hatte Kinder sehr gern: „Ich weiß noch, wie er mit mir spielte. Wie er sich um mich kümmerte, wie er Bonbons kaufte. Damals waren ja Bonbons Mangelware. Zwei mit Bonbons gefüllte Kisten kaufte er zum Geburtstag und stellte sie unters Bett. Adrett, ordentlich, war er immer mit uns, mit den Kindern, zusammen. Er hatte uns Kinder sehr lieb … Mir hat sich der letzte Erste Mai vor dem Krieg besonders eingeprägt. Der Vater hatte einen weißen Anzug an, war wie aus dem Ei gepellt. Die Menschen trugen Transparente und Fahnen und gingen dann auf eine Wiese zum Feiern: da gab es Imbissbuden, man konnte sich also etwas kaufen, was – weiß ich nicht“ [3, Min. 03:28–03:53; 17:05–17:23].
Ljudmila Kowaljowa erinnert sich an die Hochzeit der Cousine ihrer Mutter: „Es war Samstag, wir saßen gerade am Tisch. Da waren Lautsprecher und es kam wohl die Ansage im Radio: Krieg. Alle jammerten und weinten und schrien oh und weh und stürmten dann weg. Die Tische blieben unberührt. Nach einer gewissen Zeit kamen schon diese Banditen auf Motorrädern angerattert“ [3, Min. 06:48–07:13].
Krieg und Holocaust
Vom Kriegsbeginn in Swislotsch berichten einige Zeitzeugen in ihren Erinnerungen: Georgi Sabawski, Zylja Rubintschik, Israil Awsejewitsch, Walentin Lukjanenko. Sie alle sind sich einig, dass dieser Sonntag nichts Schlimmes verhieß und die Menschen vom Kriegsausbruch aus dem Radio erfuhren.
Die Deutschen marschierten am 29. Juni 1941 in Swislotsch ein. Fast niemand von den Einheimischen wurde evakuiert. Die beiden älteren Schwestern Marija Litwins und ihre Familien verließen den Ort ebenso wie einige jüdische Familien, aber alle anderen blieben da. Solange die Wehrmachtstruppen vorbeizogen, passierten keine Grausamkeiten. Als aber die deutsche Verwaltung eingesetzt und ein Polizeirevier (Anm.: Die deutschen Besatzungsbehörden warben einheimische Freiwillige für die Polizei bzw. Hilfspolizei zur Unterstützung von SD und SS) eingerichtet wurde, veränderte sich das Leben jäh.
Aus Walentin Lukjanenkos Erinnerungen erfahren wir: „nach dem Kriegsausbruch blieben die Juden in ihren Häusern wohnen, mussten sich aber auf die Kleidung gelbe Kreise aufnähen. Nicht die Kinder, nur die Erwachsenen“ [1, S. 387]. Ähnliches berichtet auch Georgi Sabawski: „Nach dem Kriegsbeginn und bis zur Erschießung wohnten die Juden nach wie vor in ihren Häusern, sie wurden nicht umgesiedelt. Sie trugen gelbe sechszackige Sterne vorne und hinten“ [1, S. 377].
Aber sowohl Sabawski als auch Lukjanenko waren damals zehnjährige belarussische Kinder, sie berichten lediglich davon, was sie gesehen haben und verstehen konnten. Israil Awsejewitsch aber war etwas älter (13 Jahre beim Kriegsausbruch) und Jude. Alle Weisungen der deutschen Verwaltung galten unmittelbar ihm und seinen Familienangehörigen. Laut Israil Awsejewitsch (Isja, wie man ihn in Swislotsch nannte) „wurde im Ort der Befehl ausgehängt, der es den Einwohnern verbot, die Juden zu grüßen. Und die Juden ab zwölf Jahren sollten einen gelben sechszackigen Stern auf der Kleidung tragen, dessen Größe extra vorgeschrieben war“ [1, S. 313]. Aus den Dokumenten geht aber hervor, dass die jüdischen Kinder schon mit zehn Jahren dieses aufgenähte Unterscheidungszeichen tragen mussten.
Sehr bald verschlechterte sich die Lage der jüdischen Ortsbewohner radikal: es begannen Erschießungen. Zylja Rubintschik erinnert sich daran wie folgt: „Schon am 3. Juli 1941 begannen die Polizisten jüdische Männer scheinbar zur Arbeit abzuholen, aber keiner von ihnen kam zurück. Sie wurden einfach verbrannt. Verbrannt! Vor der Brücke über die Beresina ermordet und verbrannt. An Tagen religiöser Feste (egal, ob russischer oder jüdischer) fanden Pogrome statt. Sie ergriffen Jungen, Alte und Kinder. So vergingen der Juli, der August und der September“ [1, S. 396].
Auch die Familie Litwin blieb vom Unheil nicht verschont. Als erster wurde Großvater Aisik getötet. Das passierte im Juli 1941. Die Polizisten fassten ihn im Hof des Hauses und führten ihn ab. Seitdem blieb er verschollen. Vom Tod ihrer Großmutter Mira konnte Ljudmila Kowaljowa mehr erzählen: „Die Großmutter hieß Mira. Sie war teilweise gelähmt, ein Arm zitterte, der Speichel lief ihr aus dem Mund. Sie ging nach draußen, die Deutschen bemerkten, wie es um sie stand, und erschossen sie gleich. Mein Bruder grub eine Grube und beerdigte sie im Hof“ [3, Min. 05:45–06:24]. Leider waren ihre sterblichen Überreste nach dem Krieg nicht mehr auffindbar: die Grenzen der Grundstücke waren verschoben, alles mit Gras und Gebüsch zugewachsen. Ljudmila tut es immer noch weh, sich daran zu erinnern, die Last ist in all den Jahren nicht leichter geworden …
Aber die schlimmste Stunde schlug für die Juden von Swislotsch am 14. Oktober 1941. Diesen Tag wird Zylja Rubintschik, die ihre ganze Familie verloren und selbst nur durch Wunder überlebt hat, nie vergessen: „Am Morgen gehe ich nach draußen und sehe einen Lkw da stehen, den Fahrer Józef Pigulewski und sehr viele Menschen. Ich trete ins Haus zurück und Mutti sagt mir: „Such dir einen Versteck.“ Darauf laufe ich in die Beresinskaja-Straße und begegne Marija Nasarowitsch, die mir zuruft: „Was läufst du da rum! Eure Rosa hat man schon gefasst, geh hin, dass sie auch dich abholen.“ Ich renne weg, in den Hof zu den Janowskis. Da war unsere Scheune und daneben die von Wassili Janowski und etwas Platz dazwischen. Und der Lattenzaun. Ich kauere mich in der Ecke zusammen und da sehe ich, wie Hanna Puticha (das war ihr Spitzname) in unseren Hof reinkommt, auch ihre Brüder Michail und Grigori, ihr Mann Iwan und ihr Sohn. Und sofort in die Scheune! Sie führen zuerst meinen Bruder hinaus, dann die Mutter und die Kleinen. Michails Frau Marfa ruft: „Das sind aber nicht alle! Wo steckt denn die Zylja? Sie sind noch nicht alle da!“ Und sie führten die Meinen ab. Und ich muss dem Ganzen zuschauen. Schön, nicht? So war es“ [5].
Auch Aba Litwin musste neben anderen auf den Lastwagen steigen, auf dem sie die Juden vor der Erschießung zusammentrieben. Oben wurde schon Zylja Rubintschiks Bericht angeführt, dass Aba sich auf dem Dachboden im Haus des leiblichen Bruders seiner Ehefrau Marija versteckte und von dessen Frau Jekaterina an die Polizisten verraten wurde. Ljudmila Kowaljowa hat im Interview davon nichts gesagt. Von ihrem Stiefbruder Georgi weiß sie: Georgi kam angerannt und „sah, dass die Deutschen den Vaters schon auf den Wagen getrieben hatten. Es waren viele Menschen auf dem Lkw. Der Vater rief Georgi zu sich und reichte ihm seine Uhr. Gleich auf der Ladefläche wurde er dann erschossen. Blut lief ihm von der Schläfe …“ [3, Min. 14:54–15:12]
Man kann heute schwer sagen, was damals tatsächlich geschah. Wir wollten Ljudmila Kowaljowa nicht direkt danach fragen, ob ihr Onkel Iwan und dessen Ehefrau am Tod ihres Vaters mitgewirkt hätten. Aber gewisse Indizien sprechen dafür, dass Zylja Rubintschik Recht hatte. Ljudmila sagte, dass ihre Mutter keine Beziehungen zu Iwans Familie pflegte. Die Erklärung dafür hörte sich seltsam an: „Mutters Bruder hatte eine eigene große Familie, er lebte getrennt. Swislotsch war groß, sie wohnten weit von uns. Wir verkehrten nicht miteinander“ [3, Min. 21:40–21:51]. Nicht einmal heute gibt es Kontakte zwischen Ljudmila und den Kindern ihres Onkels Iwan. Iwan selbst kam 1947 ums Leben, als er aus dem Fenster der Scheune stürzte. Viele Bewohner von Swislotsch glaubten, dass er Selbstmord begangen hätte, weil er den Verrat seiner Frau nicht überwinden konnte und sich auch schuldig fühlte.
Insgesamt wurden nach Schätzungen von Zylja Rubintschik und Neonila Zyganok 201 jüdische Bewohner von Swislotsch ermordet. Eine Liste der Opfer, deren Namen bekannt sind, steht im Buch „Krieg: bekannt … und unbekannt“ [1, S. 91–98]. Der prominente belarussische Forscher Prof. Ioffe geht aber von mindestens 1000 Opfern aus [1, S. 6]. Diese Zahl scheint mir nicht unwahrscheinlich, weil uns heute bei weitem nicht alle Holocaustopfer bekannt sind.
Nachkriegsleben
Der Krieg war vorbei, aber das Leben war nach wie vor schwer. Ljudmila Litwin begann nach sieben Klassen Schule als Buchhalterin zu arbeiten. Das unerfahrene junge Mädchen konnte nicht alle komplizierten Aufgaben erledigen und beim nächsten Personalabbau wurde ihr gekündigt. 1955 starb ihre Mutter Marija. Eine Cousine schlug Ljudmila vor, zu ihr nach Bobruisk umzuziehen, und versprach bei der Arbeitssuche zu helfen.
So wurde die Stadt Bobruisk für Ljudmila zur Wahlheimat. Dort heiratete sie Ilja Kowaljow, brachte zwei Kinder, Tochter Alla und Sohn Sergei, zur Welt und wurde später Großmutter. Auch im Berufsleben hatte sie Erfolg: sie machte eine Ausbildung in Warenkunde, arbeitete von 1963 bis 1993 als Lagerleiterin in einem größeren Handelsbetrieb und ging dann in Rente. Jetzt lebt sie bei ihrer Tochter Alla.
Ist die Recherche zu Ende? Nein, es geht weiter!
Ich habe nun meinen Beitrag vor mir liegen. Ist damit alles abgeschlossen?
Natürlich habe ich sehr viel von dem Mann erfahren, dessen Bild mir einst aufgefallen war und dessen Schicksal ich recherchiert hatte. Aba Litwin war ein arbeitsamer, ehrlicher, offener Mensch, er liebte seine Frau und Kinder und hatte Freude am Leben. Er war nur 29 Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Wie viel Gutes hätte er noch tun können! Aber die faschistischen Eroberer und ihre Helfershelfer von der Polizei zerstörten sein junges Leben.
Aber er war ja nicht das einzige Opfer. Eine gewaltige Anzahl von Menschen hat diesen Krieg nicht überlebt. Ich glaube, dass sich jeder an die damalige Zeit erinnern muss — und bevor Neonila Zyganok unsere Lehrerin wurde, hatte ich vom Holocaust nicht einmal gehört. Ich konnte nicht ahnen, dass einmal Juden in Swislotsch gelebt haben und solche Grausamkeiten hier während des Krieges geschehen sind. Ich muss mich jetzt schämen, dass ich früher davon nichts gewusst habe.
Dank meiner Studie habe ich sehr viele Erfahrungen im wissenschaftlichen Arbeiten gesammelt, obwohl vieles nicht sofort gelingen wollte: so eine Studie führte ich ja zum ersten Mal im Leben durch und es war ein besonderes Erlebnis, das Schicksal eines einzelnen Menschen von Null auf recherchieren zu müssen. Es stellte sich heraus, dass die Aufgabe, ein Interview mit Ljudmila Kowaljowa zu machen, mich doch überforderte. Obwohl ich Fragen, die mich interessierten, im Voraus vorbereitet hatte, konnte ich sie dann aber doch nicht stellen. Schüchternheit, Defizit an Selbstvertrauen und Angst, etwas falsch zu machen, störten mich so sehr, dass lediglich dank meiner Lehrerin Neonila Zyganok das Gespräch stattfinden konnte.
Aus den Beobachtungen, wie ein Interview gemacht wird, hoffe ich viel Wichtiges gelernt zu haben: wie man Fragen auswählt, was kann gefragt werden und welche Themen man beim ersten Mal lieber übergeht. Jetzt weiß ich, dass nicht jeder Mensch zu Tonaufnahmen bereit ist, und es dann schwierig ist, für Auflockerung zu sorgen, den Menschen für sich zu gewinnen und ihn auf ein offenes Gespräch einzustimmen.
Nach meiner Recherche wurde mir klar, dass uns noch vieles aus der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges unbekannt bleibt, deswegen will ich weitere Informationen über den Mann, dessen Schicksal mich so berührt hat, sowie insgesamt über die Geschehnisse des Holocaust in meinem Heimatkreis Ossipowitschi sammeln. Hoffentlich wird meine Suche von Erfolg gekrönt, denn diese Arbeit ist nicht nur für mich, sondern auch für die anderen wichtig.
Quellenverzeichnis
Cyganok, N. L. (Hrsg.), Vojna izvestnaja… i neizvestnaja. 2., erw. Aufl., Minsk 2012.
Vsesojuznaja perepis' naselenija 1926 g. Bd. 10. BSSR. Narodnost'. Rodnoj jazyk. Vozrast. Gramotnost'. Мoskau 1928.
Kovalёva, Ljudmila, geb. 1935, Stadt Bobrujsk [Interview am 02.11.2017].
Pamjac': Hist.-dakum. chronika Asipovickaha raёna. Minsk 2002.
Rubinčik, Cylja Gil'javna, Erinnerungen. Privatarchiv v. N. L. Cyganok.