Kriegskinder. Lebensgeschichte von Sinaida Lebedewitsch
Jelisaweta Naletko, Klasse 11, Oberschule Nr. 165, Minsk
Wissenschaftliche Betreuer: Andrei Arsenowitsch, Geschichtslehrerin; Olga Swidinskaja, stellvertretende Schulleiterin für Erziehung
Ich sage: Kriegskinder
und spüre, wie der Wind mit Kälte weht,
Ich sage: Kriegskinder
und spüre, wie es nach Hunger riecht,
Ich sage: Kriegskinder
und mir stehen Haare zu Berge,
Ich sehe graue Strähnen im Kinderschopf.
Die Erde ist mit Kindertränen getränkt
Im Sowjetland und noch vielerorts.
Wo sie die Herrschaft der Deutschen auch erlebt haben mögen —
In Dachau, Lidice oder Auschwitz,
Rot wie ihr Blut wächst jetzt
Mohn auf Appellplätzen
und welk ist das Gras,
wo die Kinder geweint haben.
Kriegskinder! Man möchte verzweifeln
vor Schmerz!
Wie viele Schweigeminuten sollen vergehen, bis er abklingt?..
Ljudmila Golodjajewskaja
Vor mir liegt ein altes Familienalbum, der lavendelblaue Einband etwas ausgeblichen, die Goldprägung nicht mehr zu entziffern. Meine Geschichte beginnt gerade mit dem Augenblick, als ich es geöffnet habe. Dunkel gewordene Pappseiten, vergilbte Fotos. Darauf die Gesichter von Menschen aus der Vergangenheit: mal fröhlich, mal traurig, der eine schaut gespannt, der andere lächelt offen in die Kamera. Ich kenne sie nicht, spüre aber, dass ich mit ihnen durch Blutsbande fest verbunden bin.
Auf einem Bild sehe ich meine Urgroßmutter, einen Herbstblätterstrauß in der Hand. Ihr Gesicht ist rosig, die gutmütigen Augen müde, das Lächeln zurückhaltend. Nichts an ihr verrät das Leid, das sie als Kind in der Haft durchmachen musste. Aber Stacheldraht, Baracken, Hunger und Tod hat sie für immer im Gedächtnis bewahrt und diese Erinnerungen an ihre Angehörigen weitergegeben.
Vorkriegsleben
Sinaida Gaponowa (Ehename Lebedewitsch) kam am 4. (5.) Mai 1928 im Dorf Rewoljuzija, Kreis Rognedinski, Gebiet Brjansk (Russland), zur Welt. Das Dorf zählte etwa zwanzig Höfe und lag, wie sich Sinaidas Bruder erinnerte, „im dichten Wald am Rande der Region Brjansk“. Nach der Hochzeit bekamen ihre Eltern Timofei und Agrippina ein Grundstück zugeteilt, wo vor kurzem der Wald abgeholzt worden war. Dort errichteten sie bald ein großes Haus: Die jungen Eheleute träumten von einer kinderreichen und einträchtigen Familie. Der Boden in der Gegend war ergiebig, deswegen konnte die Familie Gaponow nicht über die Ernte klagen, bei den Nachbarn war sie für ihren Wohlstand bekannt [2, S. 8–9].
Mit der Einführung der Kollektivierung in der Region Brjansk musste die Familie Gaponow so gut wie ihre ganze Wirtschaft an die Kolchose abtreten, nur die Kuh blieb ihnen übrig, die ihre Kleinen mit Milch versorgte. Sinaidas Vater wurde zum Brigadier in der Kolchose eingesetzt, da er ein erfahrener Mensch war, die Arbeit auf dem Acker mochte und Respekt bei den anderen Dorfbewohnern genoss [2, S. 12–15].
In der Familie Gaponow gab es vier Kinder: Sinaida, Antonina, Dmitri und Michail. Von klein auf hatten die Kinder im Haushalt alle Hände voll zu tun. Als die älteste musste Sinaida oft auf die Geschwister aufpassen und der Mutter im Haushalt helfen.
Kriegsausbruch
Für Sinaidas Familie begann der Krieg bereits am zweiten Tag, dem 23. Juni 1941, als der Vater den Einberufungsbefehl zugestellt bekam. Die Familie Gaponow hatte schon einmal den Hausherrn in den Krieg verabschieden müssen, damals hatte er am Feldzug des Jahres 1939 nach Westbelarus teilgenommen. Aber diesmal waren alle besonders unruhig. Die böse Vorahnung der Angehörigen sollte sich leider bestätigen: Timofei Gaponow fiel 1942 bei der Verteidigung von Leningrad. Nach der Einberufung des Vaters hatte die dreizehnjährige Sinaida noch mehr im Haushalt zu tun.
Dann begann die Besatzungszeit. Nicht weit vom Dorf, im Dickicht des Waldes, hatte eine Partisaneneinheit ihren Standort. Die Familie Gaponow half den Partisanen oft mit Lebensmitteln und manchmal gaben sie alles, was sie nur hatten, restlos ab. Denn man wusste: was man den Partisanen nicht abgibt, nehmen einem die Besatzer weg. In der ersten Zeit hielten sich die Deutschen nicht lange im Dorf auf, es ging lediglich ihnen darum, die Vorräte der Bauern zu erfassen und auf Panjewagen zu laden. Es kam aber vor, dass das Dorf für eine Weile zum Kampfplatz wurde, wenn die Partisanen und die deutschen Soldaten am Rande der Siedlung zufällig aufeinander trafen und sich ein Gefecht lieferten. Dann versteckten sich Sinaida und alle anderen Angehörigen im Keller und warteten den Kampf ab [3].
Im Frühling 1942 beschlossen die Deutschen entschiedene Maßnahmen zur Partisanenbekämpfung einzuleiten. Da sie das Dorf Rewoljuzija für einen Stützpunkt der Partisanen hielten, wurde es häufigen Luftangriffen ausgesetzt, bei denen Brandbomben auf die Häuser abgeworfen wurden. Einmal traf eine Bombe das Haus der Familie Gaponow. Sinaidas Mutter hatte keine Zeit, um Wertvolles zu retten, sie führte nur noch ihre Kinder aus dem brennenden Haus und nahm einige Kindersachen mit. Ebenso wie die anderen Brandgeschädigten zogen sie in die Dorfschule ein. Viele Familien machten sich auf den Weg zu den Partisanen in den Wald, wo sie Schutz zu finden hofften [2, S. 33–35].
Seit dem Jahresanfang 1943 kamen die Besatzer immer öfter ins Dorf. Ihre Haltung änderte sich spürbar: sie wurden noch böser und konnten einen ohne Weiteres erschießen. Aus panischer Angst vor Fleckfieber scheuten sie sich, die bei den Bombenangriffen unbeschädigt gebliebenen Häuser zu betreten, und machten lediglich Rast im Dorf. Allein der Gedanke daran, dass eine Partisaneneinheit in der Umgebung ihren Standort hatte, machte die Deutschen rasend.
Stalag 342
An einem Frühlingstag 1943 marschierte eine deutsche Strafeinheit ins Dorf ein: nicht weit vom Wald wurde eine unter die Brücke gelegte Mine entdeckt und entschärft und da man wusste, dass die Partisanen Verwandte unter den Einheimischen hatten, ließ der deutsche Offizier alle Dorfbewohner sich in einer Reihe aufstellen und zeigte mit seinem Gehstock auf jeden vierten. Wie Sinaidas Sohn die Geschichte aus der Familienerinnerung wiedergibt, befürchtete Agrippina das Schlimmste für Sinaida und die anderen Kinder und stürzte zum Offizier mit der Bitte, sie zu verschonen. Schüsse krachten, einige Nachbarn sanken zu Boden, aber niemand von den Gaponows war betroffen [3].
Aus Angst vor einem neuen Racheakt ging die Familie ins Nachbardorf Semjonowka. Aber auch dort gab es nun keine Rettung vor den Deutschen. Bald waren sie da, trieben die Bewohner zu einer Kolonne zusammen und führten sie nach Westen. Kaum verließ die Kolonne das Dorf, da hörten die Menschen, wie Sinaida später erzählte, herzzerreißendes Geschrei: die Deutschen pferchten die restlichen Alten und Frauen in ein Haus und zündeten es an.
Die Deutschen trieben die Kolonne pausenlos voran, tags und nachts schleppten sich die Kinder auf unwegsamen Straßen, wateten im Schlamm. Unterwegs zum Bahnhof erkrankte Sinaidas jüngster Bruder Michail schwer und starb bald. In der Familienerinnerung ist Sinaidas Erzählung erhalten, dass sie die Dorfbewohner um einen alten Trog bitten mussten, um den Jungen irgendwie zu begraben [3].
Längst nicht alle schafften es bis zum Bahnhof, wo schon der Zug für den Arbeitskräftetransport nach Deutschland bereitstand: einige wenige konnten fliehen, die Alten und Kinder aber, die unterwegs vor Hunger und Müdigkeit ermatteten, töteten die Deutschen auf der Stelle. Sinaidas Familie kam in einen Waggon, in dem es nicht einmal Pritschen gab, sodass sie auf dem Fußboden hocken mussten. Der Transport war einige Tage lang unterwegs und hielt oft, wenn Züge in Richtung Ostfront ihm entgegenkamen. Die Waggons waren verplombt und die Türen blieben geschlossen, es mangelte an frischer Luft, die Menschen konnten ihre Unterwäsche nicht waschen, so kam es zu einem Ausbruch von Fleckfieber.
Einige Tage später hielt der Zug in Molodetschno. Während der Inspektion des Transports vor der Abfahrt nach Deutschland hatte ein einheimischer Eisenbahner mit den Insassen Mitleid und meldete seinen Vorgesetzten, dass im ganzen Transport Fleckfieber grassierte. Die Wachleute wollten es vermeiden, die Seuche in ihre Heimat zu bringen, und beschlossen deswegen, den Transport in Molodetschno zu entladen [3]. So kamen Sinaida und ihre Nächsten auf belarussischen Boden.
Die Familie Gaponow wurde in ein Lager eingewiesen, das im offenen Feld lag und mit Stacheldraht umzäunt war. Später erfuhren sie, dass es im Sommer 1941 an der Stelle des Lehrerseminars Molodetschno für Kriegsgefangenen eingerichtet worden war und Stalag 342 hieß [5, S. 573]. Anfang 1943, als es wegen Fleckfieber und Massenhinrichtungen kaum noch Kriegsgefangene im Lager gab, begann man Zivilisten aus den besetzten sowjetischen Gebieten dahin zu bringen. Insgesamt kamen nach Schätzungen der Außerordentlichen Staatlichen Kommission für die Untersuchung der Verbrechen der deutsch-faschistischen Aggressoren 33.150 Menschen von 1941 bis 1944 im Konzentrationslager Stalag 342 ums Leben [4].
Die Häftlinge schliefen auf zweistöckigen Holzpritschen in Holzbaracken ohne Böden und Öfen. Wer keinen Platz finden konnte, legte sich auf den kalten feuchten Boden und wenn man nach draußen wollte, musste man über die Menschen steigen [6, S. 42].
Die Insassen bekamen nur einmal am Tag eine warme Mahlzeit. Wie Sinaida erzählte, ging es um dünne Brühe, die nicht schmeckte, aber heiß war. Zur Portion Suppe für sechs Personen bekamen sie ein Stück Schwarzbrot, nicht groß, mit Beimischung von Sägemehl und Erde. Sinaida erinnerte sich oft, wie lecker das von Mama zu Hause gebackene Brot war, und hoffte, dass sie unbedingt noch einmal davon kosten könnte.
Im Lager traten Fleckfieberfälle auf. Wenn das passierte, wurde die ganze Baracke unter Quarantäne gestellt. Wegen mangelnder Hygiene breitete sich die Krankheit schnell aus. Im Lager gab es einen einzigen Behälter mit faulem Wasser, dahin gingen Sinaida und ihre Schwester die Kleidung (ihre eigene, die der Mutter und des jüngeren Bruders) waschen. Erst nach einigen Monaten Haft gelang es den Gaponows sich ganz zu waschen: sie trieben sie unter einen Wasserstrahl, der bald eiskalt, bald kochend heiß wurde [1, S. 52].
Arbeitslager im Dorf Krasnoje
In November 1943 wurde die Familie in das Arbeitslager im Dorf Krasnoje bei Molodetschno verlegt, wo auch deutsche Soldaten in der Nähe stationiert waren. Es ist wahrscheinlich, dass ein Teil der Zivilisten deswegen a an diesen neuen Haftort bkommandiert wurde, weil man im Frühling 1943 rund 3.000 Juden in Krasnoje ermordet hatte, die meistens zu Arbeiten in einem großen deutschen Stützpunkt eingesetzt worden waren. Nach der Vernichtung so vieler Arbeitskräfte, brauchten die Deutschen dringend Nachschub [5, S. 573].
Die Gaponows wurden in einer engen Baracke zusammen mit 10 weiteren Familien untergebracht. Jeden Morgen mussten Sinaida und ihre Mutter, von einem deutschen Soldaten beaufsichtigt, Waffen und Munition von Öl säubern, die jüngere Schwester Antonina wischte die Böden in der Wohnung des deutschen Offiziers und Dmitri half den Soldaten im Haushalt. Sinaidas Sohn teilte mit, dass Sinaida eine Marke hatte, die sie, am Arbeitsplatz angekommen, an den Nagel im Zimmer des Kommandanten hängen sollte. Jeden Tag zählte der Kommandant die Marken und, falls ein Arbeiter fehlte, ging er in die jeweilige Baracke. Nur eine Krankheit galt als ein triftiger Grund, um nicht zur Arbeit zu erscheinen [3].
Die Haftbedingungen waren deutlich besser als in Molodetschno: die deutschen Soldaten gaben den Kindern aus der Feldküche was zu essen, für die Hilfe im Haushalt bekam der jüngere Bruder von den Offizieren ein Stück Brot, etwas Speck oder eine Handvoll Bonbons. Sinaida erzählte später ihren Angehörigen, dass ein deutscher Soldat ihnen einmal für die Hilfe beim Mahlen etwas Mehl gegeben hatte. Die Mutter backte ein Laib Brot für alle und die Kinder konnten nicht warten, bis das Brot abkühlte, und aßen es heiß und verbrannten sich dabei den Mund und die Kehle und mussten weinen [3].
Die Kinder wuschen sich selten die Hände vor dem Essen, wechselten die Kleidung nur nach dem Besuch im Waschraum. Es war die einzige Gelegenheit, sich mehr oder weniger komplett zu waschen, denn da wurden kleine Stücke Seife verteilt. An den übrigen kalten Tagen brachte Sinaida warmes Wasser aus der allgemeinen Küche, um ihre Geschwister in einer Schüssel zu waschen. Statt Seife nahm sie dann Asche, die man, nachdem der Herd geheizt war, sorgfältig aufsammelte und unter allen Gefangenen gleichmäßig aufteilte [3].
An einem Tag in der Woche hatten die Deutschen frei. Auch die Häftlinge arbeiteten nicht. Man ließ sie in den umliegenden Dörfern und Weilern betteln gehen. Wer schwächer war, lief direkt in Krasnoje von Haus zu Haus; die Kinder, die mehr Kraft und Ausdauer hatten, begaben sich in entlegene Dörfer, die bis dahin nur selten von „Lagerleuten“ aufgesucht worden waren. Auch Sinaida und ihr jüngerer Bruder gingen und baten um Almosen. Sie erinnerte sich, dass sie in der Regel Einzelgehöfte mieden, weil sie wussten, die Bewohner da waren geizig und halfen selten. In einem Dorf blieb Sinaida gewöhnlich an der Pforte stehen, während der kleine und magere Dmitri ins Haus trat und nach Hilfe fragte [2, S. 56–58].
In Sinaidas Familie wird die Geschichte weitererzählt, wie ein deutscher Offizier vor seinem Heimaturlaub dem kleinen Dmitri Maß vom Fuß nahm und versprach, ihm aus Deutschland Schuhe mitzubringen. Der Offizier blieb lange weg. Als er zurückkam, erzählte er, dass bei einem Luftangriff der Alliierten das Haus, in dem seine Familie wohnte, beschädigt wurde, sodass er keine Zeit für die Suche nach Schuhen hatte. Aber er versprach, dass er Sinaida und die anderen Kinder einmal mit in die Heimat nimmt, um sie mit seiner Familie bekannt zu machen [3].
Auch hat sich Sinaidas Familienangehörigen ihre Erzählung eingeprägt, wie die Häftlinge das Neujahrfest 1944 gefeiert haben. In der Mitte der Baracke standen Tische, darauf kam alles, was man nur an Essen hatte. Während die Erwachsenen am Tisch saßen, liefen Sinaida und die anderen Kinder um die Baracke um die Wette und spielten Versteck. In dem Augenblick hätte das Mädchen ihre Lage beinahe vergessen, sie freute sich, dass ihre Angehörigen lebten und gesund waren, und irgendwo tief im Inneren ahnte sie, dass sie bald frei kommen sollte [2, S. 66].
Nachkriegsleben
Anfang Juli 1944 wurde das Dorf Krasnoje ebenso wie der ganze Kreis Molodetschno von sowjetischen Truppen befreit. Die Soldaten schnitten den Stacheldraht vom Zaun des Arbeitslagers und brachten eine Feldküche. Sinaida wurde als die älteste mit der Essensausgabe an die Kinder betraut. Später erinnerte sie sich, dass die Kinder Graupen mit Fleisch aus der Gulaschkanone so gerne gegessen hatten, als hätten sie nichts Leckeres im Leben gekostet.
Ein Offizier befragte Sinaidas Familie, er wollte die genauen Angaben zu ihren Namen, Geburtstagen und dem früheren Wohnort wissen. Nach der Befragung bekamen die Gaponows eine Ration und etwas Geld ausgehändigt und konnten weggehen.
Am selben Tag versammelten sich alle Verwandten zu einem Familienrat. Sinaidas jüngerer Bruder erinnert sich: „Am Abend kamen Mutters Schwestern Lidija und Jelena zu uns und alle machten sich Gedanken, was man weiter tun sollte. Die Mutter schlug vor, man solle zuerst kurz da bleiben, denn sie wollte im Nachbardorf bei der Ernte helfen, und dann in die Region Brjansk zurückkehren. Da hatte sie ja etwas Getreide, Kartoffeln und einige wenige Sachen, die man beim Hausbrand hatte retten können, versteckt“ [2, S. 66].
Früh am Morgen zogen die Mutter und Sinaida durch die Nachbardörfer und halfen Roggen mit der Sichel schneiden, für die Arbeit wurden sie mit Getreide und Lebensmitteln entlohnt und als Tagelöhner bewirtet. Als die Erntezeit zu Ende war, beschloss die Familie Gaponow sich auf den Weg in die Heimat, ins Gebiet Brjansk zu machen. Es war schwer, einen Platz im Zug aus Molodetschno zu bekommen: ins Hinterland wurden vor allem verwundete Rotarmisten befördert. Ein Offizier half der Familie aus der Not, indem er sie einfach in einen Waggon stieß und einen Platz fand, wo sie ihre Siebensachen unterbringen konnten. Der Weg zurück führte durch dieselben Orte wie vor fast zwei Jahren, als man sie zur Arbeit ins Deutschland hatte verschleppen wollen. [2, S. 67].
In der Region Brjansk angekommen, konnte Sinaida ihren Augen nicht glauben: anstelle der Häuser lagen nur noch verkohlte Hölzer herum und die Schornsteine ragten hoch in den Himmel. Auf ihrem Grundstück wucherte Unkraut, da und hier wuchsen schon junge Bäume. Die Familie musste mit einigen weiteren Brandgeschädigten in einer Erdhütte unterkommen. Nachdem sie sich etwas eingewohnt hatten, machten sich die Mutter und Sinaida auf die Suche nach den versteckten Sachen und Lebensmitteln. Aber da hatten sie Pech: die Kartoffeln waren in der Zwischenzeit verfault, das Getreide und die Sachen waren spurlos verschwunden [2, S. 69].
Um die Kinder von den Sorgen abzulenken, schickte Agrippina sie auf die Schule. Diese lag im Nachbardorf und im Herbst war es kein Problem, dahin zu kommen. Als es aber kalt wurde, hatten es die Kinder schwer, denn nicht jeder besaß warme Kleidung und Schuhwerk. Eine Rettung war nur, dass der Unterricht in zwei Schichten stattfand. So ging Sinaida gewöhnlich am Morgen in die Schule, kam dann zurück und gab ihre Schuhe dem jüngeren Bruder, damit auch er den Unterricht besuchen konnte [2, S. 72].
Der Winter von 1945 war besonders hart und die Gaponows sahen klar, dass sie möglicherweise nicht bis zum Frühling durchhalten würden. Man musste die Kinder retten und Sinaidas Mutter beschloss, wieder nach Belarus zu gehen, wo ihre Schwestern immer noch lebten und sie selbst auch hoffen konnte, einen Arbeitsplatz zu finden.
Als sie in Molodetschno ankamen, brachte Agrippina ihre Tochter Sinaida bei einer Frau im Dorf Jachimoschtschina unter, wo das Mädchen eine Zeit lang auf die Kinder aufpasste und im Haushalt half. Später heiratete Sinaida einen Nachbarn, bald bekam sie den Sohn Wladimir. Aus diesem Anlass wies die Verwaltung der Landgemeinde ihnen ein Zimmer im Steinhaus zu, in dem vor der Revolution die Dienerschaft des dortigen Gutsherrn gewohnt hatte. Nachdem ihr Mann zum Wehrdienst einberufen wurde, zog Sinaida mit dem kleinen Sohn zu ihrer Mutter, die damals in einer Brennerei im Gebiet Grodno angestellt war. Da fand die junge Frau einen Arbeitsplatz in der Hefeabteilung, sodass sie, wie sich ihr Bruder Dmitri erinnert, ihm stets süße Hefe zum Naschen brachte [3].
Nach der Rückkehr ihres Ehemannes gingen sie in seine Heimat zurück und ließen sich in seinem Elternhaus im Dorf Scholino nieder. Sinaida ging in die Sowchose (Anm. Größerer staatlicher Landwirtschaftsbetrieb) arbeiten und blieb da bis zu ihrer Pensionierung beschäftigt.
Heute leben fast alle meine Verwandten in Belarus. Mein Großvater fährt jeden Sommer aus Molodetschno ins Dorf Scholino, um das Häuschen zu pflegen, in dem meine Urgroßmutter Sinaida bis zu ihrem Tod gewohnt hatte. Ihre Schwester Antonina zog ins Dorf Jachimoschtschina bei Molodetschno. Dmitri ist mit seinen 82 Jahren immer noch rüstig, er lebt in der Stadt Petrosawodsk in Russland. 2012 veröffentlichte er seine Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager.
Diese Geschichte stellt lediglich eins von zahlreichen Beispielen für die dramatischen Schicksale von Menschen aus den Nationen und Ländern, die von den Faschisten überwältigt wurden, dar. Für meine Familie wurde sie zu einem Symbol für Mut, Tapferkeit und Willensstärke, die Geschichte ermutigt uns, wenn es darum geht, Schwierigkeiten und Hindernisse zu überwinden.
Quellenverzeichnis
Baroŭski, B. V., Nasel'niki Belarusi ― vjazni nacyzma. Maladzečna 2009.
Gaponov, D. T., Deti vojny. Vospominanija byvšego maloletnego uznika. Petrozavodsk 2012.
Kinder von Lebedevič, Zinaida Timofeevna, geb. 1928, Dorf Scholino, Kreis Molodečno [Interview am 18.08.2017].
Materialy Črezvyčajnoj rajonnoj komissii po ustanovleniju pričinennych faktov zlodejanij nemecko-fašistskimi okkupantami za period vremennoj okkupacii Molodečnenskogo rajona. Nationalarchiv der Republik Belarus. F. 249, op. 5, d. 1239a, ll. 7–10 [Digitalkopie].
Pamjac': Maladzečna. Maladzečnenski raёn: Hist.-dak. chroniki garadoŭ i r-naŭ Belarusi. Minsk 2002.
Starykevič, S. V., Prosim u vas prabačennja… Maladzečna 2014.