Wie Mut geboren wird. Der Überlebende des Ghettos Lepel Semjon Feigelman
Polina Chabrowa, Klasse 9, Gymnasium Nr 1, Nowopolozk
Wissenschaftliche Betreuerin: Irina Dobrowolskaja, Lehrerin, Gymnasium Nr. 1, Nowopolozk
Einleitung
Der Zweite Weltkrieg gilt als der grausamste Krieg in der Geschichte nicht nur wegen großer Verluste an den Fronten, sondern auch — und vor allem — weil die Opfer unter der friedlichen Bevölkerung so zahlreich waren. Die Politik der Nationalsozialisten, die den Krieg entfesselten, zielte ja auf die „Befreiung“ Europas von „niedrigen Rassen“ durch deren Vernichtung. Der Holocaust aber, der die Schlüsselkomponente dieser Politik darstellte, wurde in der Sowjetunion verschwiegen, deswegen gab es kaum Publikationen zur Tragödie der Juden. In unserer Zeit ist das Interesse für das Thema Holocaust in Belarus stark gestiegen, es erscheinen immer mehr Studien dazu, aber dieses Thema ist sehr umfangreich und muss auf der Ebene einzelner Städte und Ortschaften erforscht werden, während die überlebenden Juden, der wichtigsten Zeitzeugen, mit jedem Jahr immer weniger werden. Deswegen glaube ich, dass man der Dokumentation der Erinnerungen dieser Menschen, mit denen die Lücken in der Geschichte unseres Landes geschlossen werden können, derzeit die höchste Priorität einräumen muss.
Für meinen Beitrag habe ich den Lebensweg von Semjon Feigelman, dem einzigen Überlebenden des Ghettos Lepel, der heute in der Stadt Polozk lebt, recherchiert. Mein besonderer Dank gilt dabei dem jüdischen Wohlfahrtszentrum Chesed Rachamim in Polozk. Der Leiter des Zentrums Alexandr Iofik hat vor einigen Jahren ein Zeitzeugengespräch durchgeführt, bei dem ich Semjon Feigelman kennengelernt habe, und später mich bei der Recherche mit Dokumenten und Materialien unterstützt, die für mich wichtig waren. Mein Beitrag zeichnet sich dadurch aus, dass er größtenteils auf den persönlichen Erinnerungen Semjon Feigelmans beruht.
Vorkriegsleben
Semjon Feigelman wurde am 29. November 1926 Jahr in Lepel, einer kleineren Stadt im Gebiet Witebsk, geboren. Sein Großvater hieß Afroim Feigelman (geboren 1870), er nahm am russisch-japanischen Krieg teil und verdiente dann seinen Lebensunterhalt mit dem Handwerk, war ein hervorragender Tischler und Zimmermann. Afroim hatte drei Söhne: Semjons Vater Kalman (wie Semjon erzählt: „Später hat man mir Klimentjewitsch (von Kliment) als Vatersnamen in die Unterlagen eintragen, als wäre Kalmanowitsch viel zu schwer auszusprechen“), den mittleren Bruder Faiwel und den jüngsten Saiwel. Wie die Großmutter hieß, weiß Semjon nicht mehr. Sie starb vor dem Krieg „und danach war auch keiner mehr da, wen man hätte fragen können“.
Semjons Vater trat in die Fußstapfen des Großvaters, auch er war Tischler und Zimmermann und arbeitete bei der Eisenbahn. Kurz vor dem Krieg wurde er 45 Jahre alt. Semjons Mutter war Hausfrau, sie hieß Hana, ihr Mädchenname war Gurewitsch. Die Familie Feigelman hatte drei Kinder. Semjon war der älteste, dann kamen seine Schwester Sonja und der jüngere Bruder Iossif zur Welt. Sie leben schon lange nicht mehr, aber Semjons Gedächtnis hat teilweise kleinste Einzelheiten aufbewahrt. Iossif hatte eine Lippenspalte und kurz vor dem Krieg wollten die Eltern ihn nach Leningrad bringen, um ihn dort operieren zu lassen. Die Familie Feigelman wohnte nicht weit vom Markt, in einem gediegenen Haus, das der Vater selbst mit Axt und Säge errichtet hatte. Semjon besuchte eine belarussische Schule. Die Eltern brauchten den Sohn nicht zum Hausaufgabenmachen anzuhalten, der Junge gab sich von selbst Mühe, denn er wollte ein gutes Schulzeugnis bekommen und damit zur Armee gehen und bei den Grenztruppen dienen. Damals träumten viele Jungen davon.
Krieg
Im Sommer 1941 war Semjon schon 14 Jahre alt und er hat alles gut behalten, wenn es ihm heute auch manchmal scheint, dass er lieber vieles vergessen sollte. Der 22. Juni 1941 … „An diesem Tag war ich mit meinen Freunden angeln. Der See und der Fluss waren in der Nähe und wir schwammen und angelten gern. An dem Tag hatten wir einen guten Fang gemacht, waren bester Laune und lachten viel. Kaum dass wir hügelaufwärts in die Stadt kamen, sahen wir Menschen dastehen und weinen. Und die Menge drängte sich um den Lautsprecher herum. Es war gegen Mittag. Überall konnte man heraushören: „Krieg! Krieg!“ Ich kam nach Hause. Auch da lautes Weinen, die Mutter fragt immer wieder: „Was soll das werden?“ Der Großvater erwidert, dass die Deutschen letztes Mal [während des Ersten Weltkrieges] auch nach Lepel gekommen seien und keinem was getan hätten: „Wir haben keinen gestört und Gott wird uns schützen.“
So eine Reaktion war offensichtlich nichts Ungewöhnliches. Die Juden in der Sowjetunion wussten nichts vom Schicksal der Juden in den von den Deutschen besetzten Ländern, insbesondere in Polen, die Zeitungen brachten keine Informationen über die Verfolgung der Juden, die in diesen Ländern nach dem Anfang des Zweiten Weltkrieges eingesetzt hatte. Einige Beiträge dazu erschienen erst nach dem 22. Juni 1941. Es gab auch keinerlei Aufrufe an die jüdische Bevölkerung des frontnahen Bereichs, um die Menschen vor der drohenden Gefahr zu warnen. Die Juden im hohen und mittleren Alter, die die deutsche Besatzung von Belarus im Jahr 1918 miterlebt hatten, erinnerten sich ihrerseits an das relativ zivilisierte Verhalten der Besatzer [2, S. 23]. Eine Bestätigung dafür findet sich in Semjon Feigelmans Erinnerungen: „Ob wir wussten, was die Juden unter den Faschisten zu leiden haben? Ob es irgendwelche Informationen gab, außer dem, was der Großvater sagte? In Lepel wohnten Flüchtlinge aus Polen, die nach 1939 zu uns geflohen waren. Sie berichteten, dass die Faschisten die Juden grausam misshandeln, sie ausrauben und ermorden. Aber in unserer Familie nahm man diese Gespräche nicht ernst, der Großvater pflegte dazu „Propaganda“ zu sagen.“
Das war ein Grund, warum ein erheblicher Teil der Juden, darunter auch Semjons Familie, beim deutschen Vormarsch auf dem besetzten Territorium blieb. „Die Familie stand vor der Wahl: sollen wir nach Osten gehen oder nicht? Der Vater arbeitete bei der Eisenbahn und man ließ sie sich auf den Wegzug vorzubereiten. Viele Kollegen des Vaters verließen die Stadt, er aber blieb unter dem Einfluss des Großvaters zurück. Obwohl ich darauf bestand, dass wir weggehen müssen. Wer hörte aber auf mich? Etwa ein Drittel der Juden aus Lepel schaffte es wohl wegzugehen. Einige fuhren mit der Eisenbahn bis nach Orscha, die anderen mit einem Panjewagen und manche gingen auch zu Fuß.“
Einige Tage nach dem Kriegsausbruch wurde die Stadt zum ersten Mal bombardiert. Dann kam es immer wieder zu Luftangriffen, eine Bombe schlug neben Semjons Haus ein, eine andere traf den benachbarten Laden und legte diesen in Schutt und Asche. Da wurde allen klar: es hieß weggehen. So erreichten sie das Dorf Kasinschtschina, wo der Großvater und der Vater viele Bekannte hatten. Die beiden stellten ja Fenster, Fensterrahmen und Türen her und hatten als Tischler in vielen Dörfern einen guten Ruf. Aber am 28. Juni waren die Deutschen den Flüchtlingen schon voraus und sie musste nach Lepel zurückkehren. Die Familie kam in ihr Haus zurück, es war weder besetzt noch geplündert, da blieben sie auch. „Die Deutschen besetzten Lepel fast ohne Kampf, sie gingen durch die Häuser und verlangten Eier und Butter. Sie wollten die Mutter töten, als sie sagte, dass wir selbst nicht genug Essen hatten. So mussten wir zwei Hühner und Eier abgeben.“
Ghetto
Bald leiteten die deutschen Behörden die „Säuberung“ der besetzten sowjetischen Gebiete von Juden ein. Zuerst wurden die Juden von der einheimischen Bevölkerung abgeschnitten: man zwang sie in größere Orte und Städte ziehen, ein Teil wurde dann sofort erschossen, die anderen in besonderen Vierteln, in Ghettos, untergebracht.
Anfang Juli ließen die Deutschen alle Juden sich in der Stadtmitte von Lepel versammeln und ordneten an, dass die Juden an ihre Häuser gelbe Sterne heften, auf die Kleidung vorne und hinten gelbe Lappen annähen, Armbinden mit der Aufschrift „Jude“ tragen und nur mitten auf der Straße, aber nicht auf dem Bürgersteig gehen sollten. Auf jeden Verstoß stand die Erschießung als Strafe. Die Juden wurden nunmehr zu Zwangsarbeiten eingesetzt und hatten die schwersten und schmutzigsten Aufgaben zu verrichten: Toiletten putzen, laden und entladen, Straßen reparieren.
Dann ließ man Mitte Juli die Juden wieder zusammenkommen und befahl allen, ins Ghetto überzusiedeln. Man durfte nur das Notwendigste mitnehmen. Für die Übersiedlung standen den Menschen zwei Stunden zur Verfügung. Jedes Haus wurde von vier oder sogar auch fünf Familien bezogen: „Wir waren zwölf oder dreizehn, die in einem Haus unterkamen, alles Verwandte. Unser Haus mussten wir räumen, und wer später da einzog, weiß ich nicht, weil es verboten war, das Ghetto zu verlassen. Die Häuser im Ghetto hatten weder Türen noch Fußboden aus Brettern … Wir durften kein Licht in den Häusern machen und kein Wasser aus dem Brunnen oder vom Fluss holen, im Winter ließ man uns Schnee zu Wasser schmelzen.
Das Ghetto wurde teilweise von Deutschen, größtenteils aber von Polizisten bewacht, von den „Unseren“ aus Lepel, von denen ich viele noch vor dem Krieg kannte. Zu ihnen gehörte etwa Sublinski, der nach dem Krieg zehn Jahre absaß und bald daraufhin starb. Es waren meist junge Männer, die zur Polizei gingen, weil man es nicht geschafft hatte, zur Roten Armee einzuberufen.
Der Bruder meines Vaters Faiwel, seine Frau und ihre beiden Mädchen kamen ins Ghetto, auch die Frau seines jüngeren Bruders Saiwel mit ihrer kleinen Tochter, die 18 Monate alt war. Saiwel selbst wurde mit seiner Truppeneinheit bei Witebsk eingekesselt und mehr wissen wir über sein Schicksal nicht.“
Den Arbeitseinsatz der Ghetto-Häftlinge wurde vom so genannten Arbeitsamt organisiert. Durch das Scheitern des Blitzkriegs sahen sich die Besatzungsbehörden gezwungen, die Ghettos in Städten länger bestehen zu lassen, um qualifizierte Arbeitskräfte im eigenen Interesse auszubeuten. Jüdische Arbeitskommandos wurden unter Bewachung aus dem Ghetto zu Betrieben und in Einrichtungen, zur Trümmerräumung und Erdarbeiten geschickt. „Mein Vater, der ja ein guter Tischler war, bekam manchmal von den Deutschen den Auftrag, einen Koffer zu fertigen, damals waren solche Sperrholzkoffer üblich, aber meistens musste er zu den gleichen Arbeitseinsätzen ebenso wie alle anderen.
Ich schlüpfte heimlich aus dem Ghetto, bettelte bei Bekannten um Essen, meistens ging es um Kartoffelschalen, und ging dann vorsichtig, um nur keinesfalls auf Polizisten zu treffen, zurück. Die Kartoffelschalen wurden mehrmals gewaschen, zerkleinert und daraus Pfannkuchen gebacken. Wir hatten kein Fett und streuten Salz in die Pfanne. Das galt als gutes Essen.
Wer arbeitete, war noch halbwegs versorgt, aber die meisten Häftlinge hungerten. Und jeden Tag starben Menschen an Hunger. Viele waren krank. Es gab keine Arzneien. Im Ghetto wohnte ein in der Vorkriegszeit in Lepel gut bekannter Arzt, sein Name war Gelfand. Sogar die Deutschen holten ihn in ihr Militärkrankenhaus, damit er die Ärzte beriet. Einmal wurde Gelfand von einem Auto tödlich angefahren. Man meinte, dass es eine absichtliche Tat war. Es gab auch andere Ärzte, aber sie hatten nichts, womit sie Menschen behandeln konnten. Sowohl die Deutschen als auch die Polizisten schikanierten misshandelten die Juden, schlugen sie bei jedem Anlass oder manchmal einfach so, zum Spaß.“
Eine besondere Sache waren regelmäßige Anwesenheitskontrollen im Ghetto. Sie erklärten, dass beim Fehlen eines einzigen Menschen im Haus, nicht nur seine Familienangehörigen, sondern auch alle Bewohner unverzüglich erschossen werden. „Während einer Kontrolle kam ein SS-Mann zu uns ins Haus. Man musste in einem solchen Fall gleich aufstehen und die Kopfbedeckung abnehmen. Ich fühlte mich wegen der ständigen Unterernährung sehr schlecht und konnte nicht aufstehen. Der SS-Mann befahl mir mitzukommen. Alle weinten und flehten ihn an, aber es hatte keine Wirkung. Der SS-Mann führte mich aus dem Haus in Richtung Ghettoausgang. Einige Häuser weiter blieb er stehen und schlug mit seinem Gummiknüppel auf mich ein. Als ich in Ohnmacht fiel, ging er weg … Seit diesem Tag machte ich mir Gedanken über die Flucht, hatte aber Angst, weil ich wusste: wenn die Faschisten jemand bei der Kontrolle vermissen würden, würden sie alle Hausbewohner erschießen. Kaum dass ich das Wort „flüchten“ sagte, schimpften die Angehörigen: „Deinetwegen werden wir alle umkommen.“ Wer jünger und fitter war, versuchten mit der ganzen Familie aus dem Ghetto zu fliehen. Aber nur selten konnten sie der Verfolgung entkommen.
So dauerte es bis Ende Februar 1942. Kurz davor, am 29. Januar 1942, beschrieb der Staatsrat Hofmann bei einer Konferenz der Führung des Generalbezirks Weißruthenien die Aufgaben der Besatzer in Bezug auf die Juden und die aktuelle Situation folgenderweise: „Die entschiedene und vollständige Liquidierung der Juden auf dem Gebiet von Weißruthenien nach dem deutschen Einmarsch stößt auf gewisse Schwierigkeiten. Gerade Juden bilden hier einen sehr hohen Anteil an Fachkräften, die in diesem Gebiet wegen fehlender anderer Reserven unabkömmlich sind. Außerdem hat die Einsatzgruppe A dieses Gebiet erst nach starkem Kälteeinbruch übernommen, was Massenexekutionen erheblich verhindert hat. Der Polizeiführer Weißruthenien wurde trotz schwieriger Lage angewiesen, die jüdische Frage möglichst schnell zu lösen. Dafür werden jedoch rund zwei Monate Zeit je nach Witterungsverhältnissen erforderlich sein. Die Unterbringung der restlichen Juden in den bestehenden weißruthenischen Ghettos und Lagern wird bald abgeschlossen.“ [2, S. 58]
Semjon Feigelman erinnert sich: „An dem Tag, dem 28. Februar 1942, es war nicht einmal sechs Uhr morgens, hörte man draußen Lärm und Geschrei. Den Menschen wurde klar: die Deutschen begannen, die Juden zusammenzutreiben, um Schluss mit uns zu machen. Darüber wurde schon längst gesprochen. In Polozk kam es schon mehrmals zu Erschießungen und alle wussten davon.
Um acht Uhr morgens fuhren Autos mit Faschisten in die Straße. Die Polizisten jagten alle mit Kolbenschlägen und Stiefeltritten aus den Häusern. Sie ergriffen die Menschen und luden sie auf die Lkws. Es wurde laut, die Kinder und Frauen weinten. Ein Schuss fiel, es folgten Feuerstöße aus Maschinengewehren und Maschinenpistolen. Alle liefen in verschiedene Richtungen davon. Die Menschen, die aus ihren Häuser stürmten, wurden erschossen und die Leichen auf die Lkws geworfen. Die Lkws wurden von acht bis zehn bewaffneten Polizisten bewacht. Dann rasten die Wagen durch die Stadt nach Südwesten.“ Man brachte die Juden ins Dorf Tschernorutschje, sieben Kilometer von der Stadt entfernt, wo sich schon offene Silogruben befanden. Sie ließen die Menschen sich ausziehen, stellten sie an den Rand der Grube und schossen aus Maschinengewehren und Maschinenpistolen auf sie. Am Tag wurden über 1000 ermordet. Kleinere Kinder warf man lebendig in die Grube, sie konnten nicht aus dem Leichenhaufen hervorkriechen und erstickten. Das Massengrab blieb rund anderthalb Monate lang nicht zugeschüttet. Hunde und Wölfe machten sich über die Leichen her. „Das Massaker an den Juden war so entsetzlich, dass die Einheimischen, die diese Gräueltat miterleben mussten, in Ohnmacht fielen“, erinnerte sich ein weiterer Zeitzeuge, Jefim Judowin.
Flucht und Umherirren
Als die Razzia begann, lief Semjon Hals über Kopf, nicht einmal angezogen, aus dem Haus. Der Vater rief ihm zu: „Schnell fort!“ „Als ich sah, welche Wendung die Sache nahm, zog ich mir Alles über, was ich in die Hände bekam, steckte die nackten Füße in die Schuhe, rannte aus dem Haus und zum Fluss hin. Es dämmerte schon langsam. Der Tag war sehr kalt. Aber ich spürte keine Kälte. Wir waren fünf, die zu fliehen versuchten. Die Deutschen sahen uns und feuerten los. Drei wurden sofort getötet, noch einer fiel verwundet zu Boden. Die Deutschen kamen näher und gaben ihm den Todesschuss. Ich war vor Schreck mit dem Gesicht in den Schnee gestürzt und lag still, etwa vierhundert Meter vom Haus entfernt. Die Deutschen glaubten, ich wäre tot. Als sie fortgingen, kroch ich zum Fluss. Am Ufer der Essa erhob ich mich und rannte weiter. Da hörte ich Lärm im Rücken. Ich lief durchs Wasser, damit die Hunde meine Spur nicht verfolgen konnten. Und dann dachte ich mir, ich muss hinüberschwimmen, und sollte ich untergehen, so sei’s drum.
Vor der Stadt wohnte im Dorf Matjuschino ein Bekannter des Vaters. Die Beine führten mich selbst dahin. Er hieß Alexandr. Ich musste eine Chaussee überqueren und sah auf einmal eine Kolonne von Deutschen kommen. Ich fiel wieder in den Schnee und lag still, bis sie vorbei waren. Ich kam zu Alexandr angerannt und da sagte man mir: „Die Polizisten sind im Dorf, du musst weg.“
Meine Füße waren schon weiß, man musste sie dringend retten. Aleksandrs Tochter Jelena rieb mir Gänsefett in die Haut. Man gab mir Socken und trockenes Schuhzeug. Ich bekam auch ein Stück Brot, wurde aber gewarnt: keinesfalls alles sofort aufessen, sonst stirbt man, wenn man, wie ich, davor drei Tage gar nichts gegessen hat. Alexandr sagte, es sei überall voll von Deutschen und Polizisten, überall würde nach Geflüchteten gesucht. Er riet mir Richtung Witebsk zu gehen, um dann die Front zu überqueren. Ich folgte diesem Rat. Ich konnte unterwegs kaum eine Bleibe für die Nacht finden, keiner wollte mich reinlassen, alle hatten Angst. Mal musste ich im Viehstall übernachten, mal in einem Heuhaufen oder auch einem Badehaus, das war der stillste und schönste Ort. Ich ging zum Truppenübungsplatz Dretun. In Dörfern erklärte ich, dass ich aus einem Waisenhaus komme. Die Einheimischen meinten, ich sollte nach Westen gehen: „Da gibt es viele Wälder, vielleicht triffst du in einem entlegenen Dorf auf jemanden, der dich bei sich aufnimmt.“ Die Füße taten mir weh, meine Kleidung war am Körper verfault und verlaust. Ich hatte nichts zu essen und bekam selten etwas von den Menschen, öfter jagte man mich fort und sagte: „Deinetwegen wird man alle umbringen.“
Ich erreichte die Chaussee Witebsk-Polozk und ging nach Westen. Dabei gesellte ich mich zu einer alten Frau, half ihren Schlitten zu ziehen und bat sie, beim Überqueren der Brücke den deutschen Wachleuten zu sagen, dass ich ihr Sohn sei. Ich sprach ihr sogar das Wort Sohn auf Deutsch vor. Als wir uns der Brücke näherten, zeigte der Deutsche fragend auf mich und die Alte sagte „Sohn“. Der Deutsche winkte uns vorbei.
Wir zogen durch Polozk, wo ich Erhängte sah, und erreichten das Dorf Wetrino. Ich verstand, dass die Alte mich nicht aufnehmen würde, dankte ihr und ging weiter. So kam ich in den Kreis Glubokoje, dann Miory. Zweimal versuchte man mich an die Deutschen auszuliefern, setzte mich auf einen Panjewagen, aber ich konnte entfliehen. Vor Prosorki kehrte ich ins Dorf Antopolje ein. Das war ein glücklicher Zufall: ein Mann kam gerade Brennholz holen, er hieß Wassili. Später erfuhr ich, dass er einst Mitglied der kommunistischen Partei von Westbelarus war. Wassili schaute auf mich und sagte: „Man muss dich heilen, sonst stirbst du.“ Er nahm mich zu sich, aber Wassili wohnte vor aller Augen im Dorf und es war für ihn gefährlich, einen Fremden zu beherbergen. Er brachte mich zu seinem Verwandten, dem Förster Nikita Griz. Dessen Familie wohnte im Wald, weit vom Dorf entfernt. Ich sagte, dass ich Semjon heiße. Nach dem Familiennamen fragte man mich nicht. Nikita und seine Frau Jewgenija ließen mich die Kleidung ausziehen und verbrannten sie gleich, weil sie von Läusen wimmelte. Dann begannen sie mich zu behandeln. Die Eheleute Griz hatten einen Sohn – Wadim. Er wurde streng angewiesen, niemandem von mir zu erzählen.
Später machte ich mir oft Gedanken darüber, ob die Griz wussten, dass sie einem Juden Zuflucht gewährten? Sie fragten mich ja nach nichts. Ich selbst sagte natürlich auch nichts. Aber es gab Augenblicke, wo Worte überflüssig waren, beim Baden etwa. Ich wandte mich ab und tat so, als schämte ich mich … Ich glaube, der Förster und seine Frau verstanden, wen sie beherbergten. Aber im Beisein ihres kleinen Sohnes sprachen sie nie davon. Während des Krieges war es unwichtig, wer welche Nationalität hatte, wer was war, alle halfen einander.“
Auf Semjon Feigelmans Antrag wurde seinen Rettern Nikita, Jewgenija und Wadim Griz nach dem Krieg der Titel Gerechter unter den Völkern verliehen. Leider war zum Zeitpunkt der wohlverdienten Ehrung lediglich Wadim Griz am Leben. Der Ausdruck „Gerechter unter den Völkern“ findet sich erstmalig im Talmud. Mit der Zeit bezeichnete man so diejenigen, welche die sieben Gebote einhielten, die unter anderem das Blutvergießen verbieten, die Befolgung der Gesetze und auch die Ausrichtung an den Grundsätzen der Gerechtigkeit verlangen [1, S. 3]. Die Gesetzgeber des Staates Israel wählten diesen alten Ausdruck als Ehrentitel für diejenigen, die Juden während des Holocausts gerettet hatten. In den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten bedeutete ja damals ein gelungener Ausbruch aus dem Ghetto (was an sich ein unglaubliches Glück war) noch nicht die Rettung. Die Deutschen führten bestimmte materielle und ideelle Anreize für diejenigen ein, die Juden an die Besatzungsbehörden verrieten, und entgegen Semjon Feigelmans oben angeführter Behauptung konnte deswegen ein jeder Mensch, dem der jüdische Flüchtling im Wald oder auf einer Straße begegnete, diesen in große Gefahr bringen. Also war das Überleben ohne Hilfe jener, welche dem Flüchtling Unterkunft und Verpflegung gewähren konnten, eigentlich unmöglich.
In der Familie Griz war Semjon in relativer Sicherheit. Aber der Jugendliche wollte auch nicht unbeteiligt bleiben: „Im Sommer 1942 tauchten im Wald aus dem Lager geflüchtete Kriegsgefangene auf. Zwei fanden bei den Griz Zuflucht. Dann schlossen sie sich den Partisanen an. Sie suchten uns ab und zu auf. Der eine von ihnen, Medkowski, wurde zum Führer der Aufklärungsgruppe der Woroschilow-Brigade. Er fiel während der Blockade des Partisanengebiets Lepel / Polozk unweit des Dorfes Podswilje. Er schärfte mir ein, ich sollte mich den Fremden nicht zeigen und außerhalb des Hauses an einem verborgenen Ort übernachten. Er dachte wohl daran, wie man die Gefahr für die Familie des Försters abwenden könnte.
Einmal, als Medkowski mit einer Partisanengruppe zu uns kam, bat ich ihn, mich in den Wald mitzunehmen. Er antwortete: „Wir brauchen dich hier. Bleib solange hier, pass aber auf.“ So unterhielten wir bis 1944 Verbindung zu den Partisanen, versorgten sie mit Informationen darüber, wo welche deutschen Truppen stationiert waren.“
Beim Wehrdienst
Im Jahr 1944, als Belarus befreit wurde, war Semjon 17 Jahre alt. Um zur Armee einberufen zu werden, musste er seinem Alter ein Jahr hinzufügen. So konnte er dem Reserveregiment der Marine im Nördlichen Eismeer zugeordnet und in den Norden Russlands abkommandiert werden, wo er in den Gebieten Archangelsk und Murmansk diente. 1950 absolvierte Semjon die Regimentsschule, an der Unteroffiziere ausgebildet wurden, ging bald nach Petrosawodsk zur Militärschule, kam 1951 in sein Regiment schon als Leutnant zurück und führte seitdem einen Granatwerferzug.
Semjon erfüllte glänzend seine Aufgaben, weil er sich durch Selbstbeherrschung und Ausdauer sowie Schlagfertigkeit auszeichnete, sich lange trotz Müdigkeit konzentrieren konnte. Und Hauptsache, er war zielstrebig und wusste, dass jeder Mensch selbst seinen Weg finden soll. Sein ganzes Leben war bis dahin mit dem Krieg verbunden. Deswegen schwankte Semjon nicht, als er die Entscheidung traf, Prüfungen an der höheren Militärschule in Leningrad abzulegen und endgültig Berufssoldat zu werden.
Im Jahr 1956 lernte Semjon Feigelman während des Urlaubs, den er in der Heimatstadt Lepel verbrachte, seine künftige Frau kennen, die seine treue Freundin und Gefährtin wurde. Semjon diente bis 1964 hinter dem Polarkreis und stieg vom Soldaten zum Major auf. Dann beantragte er die Versetzung nach Hause, nach Belarus, und ging nach Bobruisk zur 5. Gardepanzerarmee. 1981 zog Semjon Feigelman nach Polozk, in die Heimatstadt seiner Frau, und schied als Oberstleutnant aus dem Dienst aus. In seiner Familie sind ein Sohn und eine Tochter großgeworden, er hat vier Enkelkinder. Der Veteran des Krieges und der Armee wurde mit 23 Medaillen ausgezeichnet.
Engagement für die Gesellschaft
Sogar nach der Entlassung 1981 hörte Semjon Feigelmans Dienst nicht auf. Als er nach Polozk übersiedelte, arbeitete er lange gleich an zwei Oberschulen der Stadt und hielt Wehrunterricht ab. Seiner Meinung nach zeigte der Große Vaterländische Krieg, dass jeder Mensch von Kindheit an sein Land verteidigen kann und schon als fertiger Soldat zur Armee gehen muss. Im Wehrunterricht informierte man Schüler über verschiedene Arten von Waffen, brachte ihnen Grundkenntnisse im Umgang mit Schusswaffen bei, es war eine Erziehung zur Disziplin und diente zur Stärkung des Kollektivs, „eine echte Schule für Männer“.
Aber auf den Unterricht allein konnte sich so ein tatkräftiger Mensch wie Semjon Feigelman nicht beschränken. Er engagierte sich in militärpatriotischen Aktivitäten, betreute die Arbeit des Klubs „Poisk“ in der Oberschule Nr. 15 (Suche nach sterblichen Überresten der im Krieg Gefallenen). Nach einiger Zeit wurde Feigelman Mitglied und später auch Leiter des Rats der Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges. Jetzt veranstaltet er Feiern, hilft denjenigen, die Therapie, Rehabilitation oder zusätzliche Rentenleistungen brauchen, Fragen der sozialen und finanziellen Versorgung zu lösen. Er hat auch den Verein der Veteranen und Kriegsversehrten am jüdischen Kulturzentrum in Polozk geleitet. Semjon Feigelman war lange ein häufiger Gast in meinem Gymnasium, er kam, um vom Krieg, den er überlebt hat und nicht vergessen konnte, zu erzählen, um uns jungen Menschen seine Liebe zur Heimat zu vermitteln.
Schlussbemerkungen
Semjon Feigelman machte alle Schrecken des Ghettos in der kleineren Stadt Lepel durch, rettete sich durch ein Wunder, half den Partisanen und diente in der Armee. Die Natur eines Menschen erkennt man in Not. Nach der Art, die Schwierigkeiten zu überwinden, kann man über seine Charakterstärke urteilen. Semjon Feigelman blieb nach all den Entbehrungen freundlich, gutmütig und hilfsbereit, dazu noch bis ins hohe Alter munter und unternehmenslustig. Leider gibt es immer weniger solche Menschen unter uns. Die meisten Zeitzeugen können, da sie schon sehr alt und gebrechlich sind, kaum noch ihre Erinnerungen mit den Nachkommen teilen. Semjon Feigelmans persönliches Archiv enthält Angaben zu jüdischen Ghetto- und KZ-Überlebenden, die in der Stadt Polozk und Umgebung wohnhaft waren. Von 11 Menschen aus dieser Opferkategorie, die im Jahr 2005 noch am Leben waren, lebt heute anscheinend keiner mehr. Umso wertvoller finde ich die Informationen, die ich bei meiner Recherche dank der Hilfe von Semjon Feigelman sammeln konnte.
Quellenverzeichnis
Galperin, I., Svet ne bez dobrych ljudej. Minsk 2004.
Mel'nikov, D., Černaja, L., Imperija smerti. Moskau 1987.
Fejgelman, S. K., Tragedija Polockogo getto. Privatarchiv von S. K. Fejgelman.